■ Sechs Autohäuser, zwei Baumärkte, aber nix zu futtern: Ein Dorf im „Aufschwung Ost“
Gallinchen (taz) – Heute wenden wir uns ab von den Weltstädten und richten unseren Blick nach Brandenburg. Dort liegt am Stadtrand von Cottbus das Dorf Gallinchen. Der Ort ist deshalb bemerkenswert, weil dort nur wenige Monate nach dem Mauerfall klotzig der „Aufschwung Ost“ begann. Gallinchen hat 1.100 EinwohnerInnen und inzwischen ebenso viele Arbeitsplätze. Zwei gigantische Baumärkte, eine Polstermöbelfabrik, ein bedeutender Pressevertrieb und zahlreiche Einrichtungs- und Autohäuser siedelten sich an – gefördert von Bonn und der EU. Und inzwischen steht hier sogar „das größte Zweiradhaus Brandenburgs“, wie der Besitzer stolz erklärt.
Alles wäre also in bester Ordnung, wenn den Bewohnern von Gallinchen nicht vor Zorn die Galle überlaufen würde: Trotz Baubooms gab es nach wie vor nur einen einzigen Supermarkt – und der hat jetzt dichtgemacht.
„Das ist doch unglaublich“, beschwert sich Rentner Fritz Baurigk (68), „da wird hier soviel gebaut, und nun kann man nicht mal mehr ein Stück Butter kaufen.“ Auch der PDS-Bürgermeister Paul Reinecke (60), der Fördermittel und Investoren an Land gezogen hat, ärgert sich: „Sie können hier zwischen sechs Autohäusern wählen“, schimpft er, „aber etwas zu essen kriegt man nicht – lächerlich.“
Besonders betroffen von diesem Versorgungsproblem sind die 200 RentnerInnen am Ort. Die nächste „Kaufhalle“ liegt mehrere Kilometer entfernt in einem Nachbardorf. Nur wenige besitzen ein Auto, und Busse verkehren zwischen den Gemeinden nicht. Ohne die motorisierten Nachbarn und Freunde, die jetzt die Einkäufe für die Alten übernehmen, hätte so mancher eine unfreiwillige Fastenkur machen oder sich ausschließlich von Käsebrötchen ernähren müssen, denn die sind wenigstens beim Bäcker noch zu haben.
Daß es einmal so kommen könnte – darüber war sich der umtriebige Bürgermeister durchaus im klaren. Der kleine Supermarkt gehörte zur Konsumkette, und die befindet sich seit März 1992 in Liquidation. Bis Ende Dezember wurde die Filiale noch beliefert – dann war Schluß.
Wäre es nach Paul Reinecke gegangen, würde schon lange ein neuer SB-Supermarkt in Gallinchen stehen. So sah es zumindest das Bebauungskonzept vor. Aber die Cottbuser Verwaltung blockierte die Genehmigung. Denn in der Lausitz-Stadt blickt man schon länger mit einem gewissen Neid auf die Entwicklung in dem erfolgreichen Dorf.
Nicht nur dort, sondern um die ganze Stadt herum sind Einkaufszentren aus dem Boden geschossen, die preiswerter sind als die Läden in der Innenstadt. Das lockt die Kunden aus Cottbus weg, wo man bereits von eienr „Entvölkerung“ spricht und diese Entwicklung mit allen Mitteln aufhalten will.
Den Supermarkt hätte das Bauamt schon genehmigt, aber der Investor wollte noch einen Hobby- und Spielwarenladen daneben bauen. Den sahen die Beamten als unliebsame Konkurrenz, und so scheiterte das ganze Projekt. Der Bau eines Aldi-Marktes wurde „mit fadenscheinigen Argumenten“ ganz abgelehnt, und „jetzt stehen wir nackt da“, geniert sich Bürgermeister Reinecke.
Nur gegen den Bau von Wohnungen hat offenbar niemand etwas einzuwenden: 350 entstehen derzeit in einem neuen Siedlungsgebiet. Wo die neuen MieterInnen aber einkaufen sollen, bleibt unklar. Die Gallinchener trösten sich derweil mit Galgenhumor: „Nach Weihnachten“, meint einer, „soll man doch sowieso nicht soviel essen – und dann beginnt ja auch schon bald die Fastenzeit.“ Konrad Schwarz
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