Schulen in Not: Lehrer auf Kuba verzweifelt gesucht
Das Bildungssystem der Castro-Insel galt als das beste Lateinamerikas. In den letzten Jahren aber sind Kubas Schulen auf allen Ebenen ins Trudeln gekommen.
HAVANNA taz Das gerade von Staatschef Raúl Castro unterzeichnete Gesetz hat den völlig unverfänglichen Namen Decreto Ley Numero 260. Das Dokument ist jedoch brisant, denn es regelt die Rückkehr bereits pensionierter Lehrer an die Tafel. Händeringend hat Raúl Castro an die maestros und profesores appelliert, den Schuldienst wiederaufzunehmen, weil in Kuba ein schulisches Desaster droht. Rund sechs Wochen vor dem offiziellen Schulbeginn im September fehlen landesweit über 8.000 Lehrer. Havanna scheint ratlos, wie sie die Krise im prestigeträchtigen Bildungssystem bewältigen soll.
Bildung ist in Kuba kostenlos, und es besteht eine allgemeine Schulpflicht bis zur 9. Klasse. Rund sechs Prozent der Gesamtbevölkerung haben einen Hochschulabschluss, womit Kuba zu den weltweit am höchsten entwickelten Ländern im Bildungsbereich zählt. Diese Quote steigt kontinuierlich, denn derzeit sind rund 510.000 Studierende eingeschrieben, davon die meisten im berufsbegleitenden Abendstudium. Allein im Ausbildungsjahr 2007/2008 kamen 76.000 Neuakademiker hinzu. Allerdings herrscht in vielen Studienzweigen ein latenter Mangel. So ist die Lage in technischen und landwirtschaftlichen Studiengängen und bei den Pädagogen bedrückend. Zudem wandern viele hochqualifizierte Absolventen in die USA oder nach Europa aus. Andere suchen Arbeit in boomenden Sektoren wie dem Tourismus, wo die Gehälter deutlich über dem kubanischen Durchschnitt liegen. Für die Jobs in diesem Sektor büffeln die Kubaner auch vor dem Fernseher, denn seit 2000 gibt es ein detailliertes Bildungsprogramm namens "Universität für alle". Dort laufen Englisch- und Französischkurse, seit November 2005 gibt es auch einen Deutschkurs.
KNUT HENKEL
Für Migdalia Pérez ist das keine Überraschung. "Das kubanische Bildungssystem befindet sich seit Jahren in der Krise, sowohl materiell als auch personell", erklärt die langjährige Pädagogin. Über dreißig Jahre hat sie unterrichtet, zuletzt an einer Schule in Centro Habana, im heruntergekommen Herzen der Stadt, nur einen Steinwurf entfernt von ihrer Wohnung in der Calzada de la Reina. Doch das ist Schnee von gestern - Migdalia Pérez hat hingeworfen und den Dienst an der Tafel quittiert. "Lehrer in Kuba sind heute keinen Centavo mehr wert", erklärt die 57-jährige. "Früher wurden wir respektiert, heute ist das kaum mehr der Fall, und von unserem Gehalt kann keiner leben." 32 lange Jahre hat sie am Pult gestanden. "Ich gehörte zu der ersten Lehrergeneration, die nach der kubanischen Revolution die Universität verließ ", erklärt die rundliche Frau mit den dunklen Haaren. Spaß hatte sie damals, am systematischen Ausbau des Bildungssystems mitzuarbeiten. Bildung hatte damals auf allen Ebenen Priorität, und bis heute gehört der unentgeltliche Besuch von Schule und Universität zu den zentralen "Errungenschaften der Revolution", wie es im offiziellen Sprachduktus Havannas heißt.
Lehren rechnet sich nicht
Bildungs- und Gesundheitssystem gelten bis heute als zentrale Legitimitätsressourcen der Regierung in Havanna. Folgerichtig hat man nach den härtesten Jahren der Wirtschaftskrise, der periodo especial, ab 1999 als Allererstes in die heruntergekommenen Schulen investiert und Ausstattung und Gebäude wieder auf Vordermann gebracht.
Dies gelang auf eine durchaus erfolgreiche Art und Weise, wie das Beispiel der Grundschule "Carlos Rafael Almendares Reyes" in Havannas Stadtteil Guanabacoa zeigt. 140 Kinder werden dort am anderen Ende der Bucht von Havanna in sieben modernen Klassenräumen unterrichtet. Die Leute im barrio, im Viertel, sind stolz auf ihre Schule, denn zur Ausstattung gehören Fernseher, Videorekorder und auch ein Computerraum. Dort surfen gerade zwei neunjährige Knirpse im kubanischen Intranet, scheppernde Salsa donnert aus den Boxen, woran sich heute, wo ein Kindertheater zu Besuch ist, kein Lehrer stört. Auffällig jung sind einige der Pädagogen, die an der Grundschule für die Abc-Schützen zuständig sind.
"Maestros emergentes", Notstandslehrer, werden die Schüler genannt, die sich nach ihrem Abitur für die Pädagogik entscheiden. In mehrmonatigen Crashkursen werden die 16- bis 17-jährigen Schulabgänger auf den Job vor der Klasse vorbereitet. Ein Job auf Zeit, denn zumeist verpflichten sich die lehrenden Teenager für fünf Jahre und nehmen parallel ein Studium auf. Eine Notmaßnahme, um dem latenten Mangel an qualifiziertem Personal an Kubas Schulen zu begegnen. "Lehrermangel ist in Kuba kein neues Phänomen" erklärt Migdalia Pérez.
"Als Lehrer arbeitet man in der Regel von 8 bis 16 Uhr 30. So hat man kaum eine Chance, noch einen Job nebenbei zu machen, um genug Geld zum Leben zu verdienen", sagte sie. Ein wesentlicher Grund, weshalb viele Pädagogen mit wehenden Fahnen Aulas und Hörsäle verlassen. 213 Pesos, das sind noch nicht einmal zehn US-Dollar, bekam ein Notstandslehrer vor vier Jahren als Einstiegsgehalt. Zwar wurden die Gehälter in den letzten Jahren angehoben, aber ein würdevolles Leben ist auch mit 300 oder 400 Peso cubano kaum möglich.
1.600 Peso cubano benötigt eine durchschnittliche vierköpfige Familie, um halbwegs über die Runden zu kommen, kalkulieren die Experten des Forschungsinstituts der kubanischen Wirtschaft. Folglich rechnet sich der Unterricht in Kuba nicht mehr für die Pädagogen. Deutschlehrer, die lieber an diplomatischen Vertretungen arbeiten oder privat unterrichten, sind genauso wenig eine Ausnahme wie Pädagogen, die sich als Fremdenführer profilieren oder in einer Hotelrezeption Dienst schieben. "Die Folgen kann man in den Klassen beobachten", erklärt Sergio García Caturla. Der Vater zweier schulpflichtiger Söhne ärgert sich darüber, dass im Unterricht immer öfter auf die Starttaste des Video- oder DVD-Rekorders gedrückt wird. "Der Videounterricht ersetzt doch nicht den qualifizierten Lehrer", moniert der 47-jährige gelernte Meteorologe.
Den vorgesehenen Englischunterricht erhält sein Ältester schon lange vorwiegend vom Band, denn die meisten der sprachkundigen Lehrer haben längst bei Auslandsvertretungen internationaler Firmen oder im Tourismus angeheuert. Ein Aderlass, der sich immer schlechter kaschieren lässt, der aber lange vom Comandante en Jefe, Fidel Castro, schöngeredet wurde. Der pries zwischen 2001 und 2005 gebetsmühlenartig die steigende Zahl von Notstandslehrern und kaschierte die Ursachen des exorbitant hohen Bedarfs ausgesprochen geschickt mit der anvisierten Reduzierung der Schülerzahl pro Klassenraum. Von bis zu vierzig Schülern pro Lehrer wollte man die Zahl der Schüler pro Pädagoge auf 15 senken, um den Unterricht noch besser zu gestalten. Als die "dritte revolutionäre Bildungsetappe" wurde das in Kuba gefeiert.
"Die Idee ist super, aber sie funktioniert nur mit gut ausgebildeten Lehrern", argumentiert Migdalia Pérez. Sie weiß von Fällen, wo die jungen Notstandslehrer mit den Klassen und den Eltern schlicht nicht klarkamen. "Stellen Sie sich vor, wie sich ein Teenager gegen die alkoholabhängigen Eltern eines Siebenjährigen durchsetzt - alles klar?", fragt die resolute Frau provokant. Das gelingt schließlich auch so manch einem alten Pädagogikhasen nicht.
Die Folgen wurden unter den Teppich gekehrt. Lieber verbreitete man Erfolgsmeldungen. So rühmte der ehemals oberste Bildungspolitiker der Insel - Fidel Castro - 2003 die niedrige Analphabetenquote der Insel, die mit gerade 2 Prozent die anderen Staaten der Region in den Schatten stellt. Auch die Testergebnisse des lateinamerikanischen Pisa-Tests von 1997 und 2005, wo Kuba in der Region weit vorne rangierte, werden als Beleg für die Qualität des Bildungssystem der Insel herangezogen.
Lehrer helfen im Ausland
Auch Ex-Weltbankpräsident James D. Wolfensohn schätzt Kubas Schulen. Er lobte 2002 die Einschulungsquote von 100 Prozent als beispielhaft. Kuba kann als eines der wenigen Länder der Welt selbst in abgelegenen Regionen gut ausgestattete Schulen vorweisen. Ein Widerspruch zur Erosion im Bildungssektor? Nicht unbedingt. Zum einen gibt es trotz der sinkenden Qualität und Motivation vieler Lehrer immer noch welche, die ihren Job mit großem Einsatz versehen. Zum anderen schlägt sich ein sinkendes Niveau in der Ausbildung auch nicht unbedingt gleich in Tests nieder.
Gleichwohl sind die Alarmzeichen seit Jahren nicht zu übersehen. Die steigende Zahl von Schulabbrechern ist dafür genauso ein Indiz wie der Exodus der Lehrer aus dem System. "Die Regierung hat auch einiges dazu beigetragen, denn schließlich hat sie mit großer Geste Pädagogen in Ausland geschickt, um anderswo, zum Beispiel in Venezuela, das Bildungssystem zu verbessern", erklärt Migdalia Pérez. Nominell kann sich das Kuba angesichts von rund 300.000 Lehrern bei einer Bevölkerung von 11,2 Millionen und einer Quote von 35,8 Lehrern pro tausend Einwohner durchaus leisten, aber beim Nachwuchs hapert es schon länger.
"Niemand will mehr Lehrer werden", grinst Enrique, ein Jurastudent der Universität Havanna. Er finanziert sich sein Studium über den Job in einem Paladar, so heißen die privaten Restaurants in Kuba, und wird in harter Währung entlohnt. Doch anders als viele Altersgenossen, die sich über den lukrativen Job freuen würden, ist der Kellnerjob für ihn nur Mittel zu Zweck. "Mit dem Geld kann ich mein Studium absolvieren und den Englischlehrer bezahlen. Gutes Englisch und eine gute Ausbildung sind für mich die Eintrittskarten in eine andere Welt", sagt der schlanke 25-jährige Mulatte. In die USA will Enrique, und dafür lernt und arbeitet er, denn in Kuba sieht er für sich keine echten Perspektiven.
Kein Einzelfall. Das Dilemma ist auch im Hochschulministerium bekannt, wie Minister Juan Vela erst vor wenigen Tagen bestätigte. Da klagte der Minister über Studentenmangel in Pädagogik und Landwirtschaft. Keine große Überraschung, denn in beiden Bereichen wird in Kuba überaus schlecht gezahlt. Das weiß auch Staatschef Raúl Castro. Der sorgte per Gesetz dafür, dass alle pensionierten Lehrer, die wieder in den Schuldienst eintreten, das Gehalt zusätzlich zu ihrer Pension erhalten. Für Migdalia Pérez ist das allerdings kein Ansporn mehr. Sie wartet auf ihre Papiere, um zu ihrem Freund nach Miami ziehen.
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