Schriftsteller Lars Gustafsson: Als die Libido noch okay war
Es gibt ältere Autoren, die behalten Reminiszenzen an ihr sexuelles Erwachen für sich. Lars Gustafsson geht in seinem neuen Buch anders vor.
Die Literatur ist ja ein einziges großes Als-ob, ein Was-wäre-wenn, in dem sich Dinge fabulieren lassen, die in Wirklichkeit nie geschehen sind, und in dem sich Geschehenes neu erfinden lässt. Lars Gustafsson war von jeher ein Meister der literarischen Symbiose von Geschehenem, Fabuliertem und Philosophiertem, und auch das eigene Leben ist in seine Literatur eingeflossen in unterschiedlichen Versionen, mögliche Welten formend, die zwar so nicht gewesen sind, doch hätten sein können. In "Frau Sorgedahls schöne weiße Arme" kostet der emeritierte Philosophieprofessor dieses Mögliche-Welten-Spiel mit der eigenen Biografie bis zum Letzten aus.
Das Buch ist ein wenig Roman, ein wenig auch Erinnerungsbuch; aber welche Erinnerungen dem Autor als seine eigenen angehören mögen, bleibt offen. Gustafsson kehrt hier zurück an die Orte seiner Kindheit und Jugend im heimatlichen Västmanland, doch nicht als der, der er ist - der ehemalige Professor aus Austin, Texas, der auch mal in Oxford gelehrt hat und seit ein paar Jahren wieder in Schweden lebt -, sondern als einer, der er in einer anderen möglichen Welt hätte sein können: Als Erzähler tritt uns ein emeritierter Professor entgegen, der immer noch in Oxford in seinem Gelehrtenkämmerchen wohnt. Er ist einer, der nichts mehr will und nichts mehr braucht, dessen soziale Kontakte sich beschränken auf die high tables, die er allabendlich besucht, und der in einer Mischung aus Altersverklärtheit und Altersbitterkeit zurückblickt auf eine Zeit, in der er noch jung und mit der Libido noch alles in Ordnung war.
Die Zeit, die Lars Gustafsson mit diesen möglichen Erinnerungen fokussiert, ist gerade jene, die der gleichaltrige Per Olov Enquist, Gustafssons ehemaliger Zimmernachbar aus Studententagen in Uppsala, in seiner kürzlich erschienenen Autobiografie "Ein anderes Leben" ausspart. In der Tat müssen die Reminiszenzen älterer Herren an ihr sexuelles Erwachen für die lesende Mitwelt nicht immer interessant sein. Der eine behält sie für sich. Der andere baut der Möglichkeit vor, für die Klischeehaftigkeit seiner erotischen Ersterlebnisse (Ingela mit den langen Beinen; Frau Sorgedahl mit den schönen Armen) persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden, indem er Instanzen der Uneigentlichkeit in seine Erzählung integriert und noch innerhalb der Fiktion offenlässt, ob Erotik mit Frau Sorgedahl nicht doch das Produkt reiner Imagination gewesen sein mag.
Dieser Text erscheint in der aktuellen vom 26.9.2009 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk.
Die plaudernde Philosophiererei, an der entlang Gustafsson scheinbar nebenbei die großen Themen des Lebens streift, liest sich zwar auf bewährte Weise gut weg. Der mäandernde Gang dieses Erzählens aber scheint fast schon zu gut eingeübt, geradezu demonstrativ; ein Eindruck, der sich verstärkt, wenn man die Erinnerungen des Schriftstellers - oder des Erzählers? - an seine Mutter dagegenhält, der er in diesem Buch als einer wahrhaft begnadeten Erzählerin huldigt: "Sie ging in diesen Erzählungen herum, ungefähr wie man in einem tiefen Wald herumgeht, sie fand Pfade, wo es eigentlich keine gab […]. Manchmal kam sie wieder heraus, manchmal verlor sie sich so tief in der Erzählung, dass es ihr nicht gelang, ein Ende zu finden […]."
Eigenartig, dass ausgerechnet die Wiedergabe einer dieser mütterlichen Erzählungen zur eindrucksvollsten Passage des Buchs gerät. Vielleicht, weil sie eine erzählerische Abgeschlossenheit und tiefer gehende Rätselhaftigkeit enthält, die der als Schriftsteller berühmt gewordene Sohn, der das Wirkliche so trefflich mit Instanzen des Möglichen in Verbindung zu bringen gelernt hat, mit seinem ureigenen Erzählen nicht mehr hervorbringt. Zu gut verbirgt sich dabei das Eigentliche hinter der sicheren Deckung des mäandernden Was-wäre-wenn. Vielleicht aber gibt es das Eigentliche auch gar nicht.
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