Schriften zu Zeitschriften: Ehrenkodex, Hierarchie, Leistungsprinzip
■ Die britische Obdachlosenzeitschrift „The Big Issue“ findet Wege aus der Apathie
Die Chancen eines Schneeballs in der Hölle hatte eine Marktanalyse dem Body-Shop-Besitzer Gordon Roddick eingeräumt, als er mit der Idee schwanger ging, eine den New Yorker Street News vergleichbare Obdachlosenzeitschrift in London zu installieren. Aber als sein Freund John Bird, selbst bestens vertraut mit dem Leben zwischen Knast und Straße, die Sache in die Hand zu nehmen versprach, schmiß Roddick die Erkenntnisse der empirischen Sozialforschung über den Haufen und ließ sich auf das Wagnis der Zeitschriftengründung ein.
Mit einem Startkapital von 100.000 Mark und fünf obdachlosen Mitarbeitern machte sich der gelernte Drucker Bird an die Arbeit. Seit der ersten Ausgabe von The Big Issue im September 1991 stieg die Auflage von anfangs 50.000 auf das Dreifache.
Mittlerweile erscheint das Blatt nicht mehr monatlich, sondern einmal pro Woche, und neben London nun auch in Manchester, Brighton und Glasgow. Vierfarbig, mit professionellem Layout und vom ursprünglichen Zeitungsformat auf handliche Magazingröße reduziert, deckt Big Issue ein Themenspektrum ab, das weit über das zentrale Anliegen der Macher – Obdachlosigkeit und Armut – hinausgeht. Mit seinem Kulturteil, mit politischen Reportagen und gelegentlichen Zugeständnissen ans Boulevardbedürfnis sichert sich die Zeitschrift nicht nur ein längeres Leben als das vom Handverkäufer zum nächsten Papierkorb, sondern eine ziemlich feste Leser- Blatt-Bindung.
Wichtiger aber ist noch ein anderer Aspekt: Big Issue hilft den Obdachlosen, die als Verkäufer, Autor oder auf irgendeine andere Weise in das Projekt eingebunden sind, neues Selbstbewußtsein zu entwickeln und den Druck der sozialen Deklassierung zu mildern. Wer Big Issue anbietet, schnorrt nicht, er verkauft etwas, das sein Geld wert ist. Wieviel er verdient, liegt in seiner Hand: die mittlerweile rund 600 vendors zahlen an der Ausgabestelle 20 Pence pro Heft, um es dann auf der Straße zum Preis von 50 Pence weiterzuverkaufen.
Die Erfolgsgeschichte von Big Issue basiert vor allem auf zwei Faktoren: einer glasklaren Hierarchie und der strengen Befolgung des Leistungsprinzips. Der zukünftige vendor hat eine einwöchige Ausbildung zu absolvieren, um sodann den „Code of Conduct“ zu unterschreiben, in dem er sich auf die Disziplinarbestimmungen von Big Issue einschwört. Wer während des Verkaufs unter Alkohol oder Drogen steht, bettelt, stiehlt oder Passanten anpöbelt, hat mit sofortigem Rausschmiß zu rechnen. Zum Zweck der Kontrolle unterhält Chefredakteur Bird das outreach team, das nicht nur vor Ort die Einhaltung des Codes überwacht, sondern auch die Beschwerden der Bevölkerung über einzelne vendors aufnimmt und weiterleitet.
Die Kehrseite des rigiden Strafkatalogs ist die für Obdachlose – allein in London wird ihre Zahl auf fast 3.000 geschätzt – wohl einmalige Chance, sich am eigenen Schopf aus dem Dreck zu ziehen. Jene Verkäufer, die im Laufe der Zeit besonders gute organisatorische Fähigkeiten entwickeln, steigen auf innerhalb der Big Issue-Hierarchie, werden zum Beispiel Leiter einer Verkaufsgruppe für einen bestimmten Bezirk. Das Projekt fördert zum einen die Integration der Mitarbeiter in die Herstellung und zum anderen den Grad ihrer beruflichen Qualifikation. Auch der Stamm an Graphikern und Verwaltungsangestellten rekrutiert sich bei Big Issue nahezu ausschließlich aus den eigenen Reihen.
Die Fortschritte für den einzelnen Obdachlosen sind meßbar. Neben dem Gefühl, wieder auf den eigenen Beinen zu stehen, ermöglichen ihm die Einkünfte aus dem Zeitungsverkauf geregeltere Mahlzeiten und den Wechsel von der Brücke ins Bed-and-breakfast-Hotel. Der Ruf, den Big Issue inzwischen auf der Insel genießt, läßt ihn zudem vor einem zukünftigen Arbeitgeber selbstbewußter dastehen. Insgesamt flossen bereits über drei Millionen Mark aus den Erträgen der Zeitschrift wieder in Obdachlosenprojekte ein, die unter anderem auch jenen zugute kommen, die aufgrund ihres körperlichen Zustands nicht mehr in der Lage sind, sich als einer der vendors zu verdingen. Die Hilfsleistungen gehen von der Unterstützung von Volksküchen über die Finanzierung von Weiterbildungsmaßnahmen bis hin zur Anmietung von Wohnungen. John Bird und seinem Team kommt dabei der Wohnungsmarkt in den britischen Metropolen entgegen.
Während hierzulande die Immobilienmakler langsam, aber sicher die Macht übernehmen, wird Bird zuweilen gar die Miete erlassen. „In London stehen derart viele Geschäftshäuser leer, daß die Besitzer froh darüber sind, wenn jemand die Heizung und die laufenden Kosten bezahlt.“ Bernd Imgrund
Kontakt: „The Big Issue“, 4 Albion Place, Galena Road, London W 6 OLT, Fax: 081/7412951
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