Schriften zu Zeitschiften: Fetisch Souveränität
■ „Transit“ sucht Auswege aus den Aporien des Nationalstaats
Kürzlich versuchte Wolfgang Schäuble in der FAZ seine Idee der „Nation als Schutzgemeinschaft“ gegen den aggressiven Nationalismus der Neuen Rechten mit der Beteuerung abzugrenzen, „das nationale Element als Band der Zusammengehörigkeit“ bleibe „nur so lange verträglich, wie daraus keine Ausschließlichkeits- und Ausgrenzungskriterien konstruiert werden“.
Was aber, wenn dies doch geschieht, wenn der Nationalismus sich von der unverträglichen Seite her zeigt? Die neuen Liebhaber des Nationalen gehen darüber mit einem hegelschen Achselzucken hinweg: um so schlimmer für die Fakten. Die Renaissance des Nationalen steht halt auf der historischen Tagesordnung. Eine kaum bemerkte Ironie der Links/Rechts-Verwerfungen der letzten Jahre: Während die Linke sich mühsam die letzten geschichtsmetaphysischen Reste ausgetrieben hat, hat die Rechte die lange verlassene Königsloge des Weltgeistes erobert und merkt vor lauter Begeisterung nicht, daß man die neuen Stücke von dort oben gar nicht mehr durchschauen kann.
Der neue alte Nationalismus schleppt eine Aporie mit sich, um die man sich nicht so einfach herummogeln kann. Sie hängt mit ebenjenem Aspekt zusammen, den Schäuble als das Unüberholbare der Nation darstellt: mit dem Charakter der „Schutzgemeinschaft“.
Unerfreulicherweise entspringen nämlich die Konflikte der Nationen untereinander aus demselben Prinzip, auf das die einzelnen Nationen sich berufen: aus dem abstrakten Selbstbestimmungsrecht, also aus der Koppelung des (kulturellen) Modells der Nation an das (staatsrechtliche) Prinzip der Souveränität. Was, wenn die Werte einer Gemeinschaft, die sich als Nation versteht und auf ihr Selbstbestimmungsrecht pocht, exklusiv und intolerant sind? Das Prinzip der Nation und des nationalen Selbstbestimmungsrechts allein bietet in diesem Falle keine Handreichungen zur Deeskalation. Internationale Chartas und Konventionen weisen denn auch bezeichnende Widersprüche auf, wo sich die heiligen Prinzipien der Identität und der Souveränität in die Quere kommen. Artikel 1 der Charta der sogenannten Vereinten Nationen, die ja eigentlich Vereinte Staaten sind, nennt „Respekt für das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker“ als Ziel der Organisation. Artikel 2 verteidigt die „territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines jeden Staates“ gegen Drohungen oder Gewalt der UN-Mitgliedstaaten. Wer sich auf den ersten Artikel beruft, beabsichtigt in der Regel, gegen den zweiten zu verstoßen.
Das neue Heft der „Europäischen Revue“ Transit, zusammengestellt von Otto Kallscheuer, sucht in seinem Schwerpunkt „Macht Raum Europa“ mit feinem Besteck nach Auswegen aus solchen Aporien. Transit erscheint seit 1990 zweimal jährlich und ist das intellektuelle Forum für die west-östliche Debatte.
Der Historiker Reinhart Koselleck liefert eine Archäologie der politischen Assoziationen in Deutschland. Sein Beitrag muß als Antwort auf die populäre Rede von der Normalisierung, vom Erwachsenwerden der Deutschen im Zeichen der Nation gelesen werden. Koselleck greift dabei weit zurück in die Geschichte des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“. Das Alte Reich war zu groß, um unter vorindustriellen Bedingungen ein Staat zu werden. Sein Zusammenhalt waren die föderalen Strukturen, die „Bünde“, die „Einungen“, Koalitionen verschiedener Herrschaften und Stände (am berühmtesten unter ihnen die Hanse). Die föderale Organisation der Herrschaft, die wie ein variables Gitternetz das Reich überspannte – das ist die Pointe von Kosellecks Exkursion –, ist der Normalfall der deutschen Geschichte. Dazu verhält sich die Phase eines zentralistischen, homogenen deutschen Nationalstaats wie eine kurze und zudem unglückliche Episode. Um so absurder, daß der nationale Machtstaat heute von der Neuen Rechten als telos der deutschen Geschichte verkauft wird.
Man muß sich also, so die unterschwellige Botschaft von Kosellecks Aufsatz, gar nicht allein auf die Greuel des deutschen Nationalismus berufen, um ihn zu diskreditieren. „Die Geschichte des deutschen Volkes in seinen diversen Bundesstaaten bezeugt zumindest eines: Staat und Souveränität müssen nicht zur Gänze konvergieren. Der Begriff einer geteilten Souveränität ist nur dann ein Widerspruch in sich, wenn der restlos homogenisierte Nationalstaat als letzte Instanz gesetzt wird.“ Und dazu liefert die deutsche Geschichte nun wirklich keine Argumente.
Der Yale-Professor Juan J. Linz kommt in seinem Beitrag aus anderer Perspektive zu überraschend ähnlichen Ergebnissen. Nach seinem Durchgang vor allem durch die spanische Geschichte und die Ereignisse nach dem Ende der Sowjetunion erscheint es sinnvoll, Staaten- und Nationenbildung scharf zu unterscheiden. „Die Theoretiker des Nationalismus“, so Linz, „betonen unermüdlich den natürlichen Charakter der Nation im Gegensatz zur Künstlichkeit des Staates.“ Diesem Schema folgen auch Schäuble und die Seinen, wenn sie darauf beharren, daß das künstliche Gebilde des Staates nicht in der Lage sei, ausreichend Loyalität zu erzeugen. Linz kehrt die Perspektive um: in den meisten Fällen, in denen die nationale kollektive Identifikation mit der Staatenbildung verkoppelt ist, wird eine so starke Loyalität erzeugt, daß „Prozesse kollektiver Entzivilisierung“ drohen. Die Zivilität einer Gesellschaft bemißt sich daran, wie viele konkurrierende Identitäten in ihrer politischen Raumordnung möglich sind. Von daher wäre auch der Begriff der Souveränität neu zu denken. Jörg Lau
Transit. Europäische Revue, Heft 7, Frühjahr 1994. Verlag Neue Kritik, 205 Seiten, 20 DM
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