: Schorf aus Sprache
Subtile Unterströmungen, durch Ratio sauber zugedeckt: Die Novelle „Das ist Alise“ des norwegischen Autors Jon Fosse ist im Hamburger Marebuchverlag erschienen
Da ist dieser merkwürdige Panzer aus Sprache. Vielleicht ist es auch nur Schorf. Oder Äderchen unter transparenter Haut. Die sich verflüchtigen, sobald man nach ihnen piekst. Denn einander zu begreifen – das gelingt den Figuren des norwegischen Autors Jon Fosse trotz aller klaren Worte nicht. Weder in seinen minimalistischen Theaterstücken noch in seinen Novellen, deren jüngste – Das ist Alise – jetzt im Hamburger Marebuch-Verlag erschienen ist.
Ein Paar – Asle und Signe – steht im Zentrum der Geschichte, in der Zeit- und Bewusstseinsebenen lautlos ineinander greifen. Als Perle einer auf ewig verbundenen Kette von Generationen versteht Fosse jeden Einzelnen, baut archetypisch schicksalsverwandte Figurenreihen auf, als wolle er Unentrinnbarkeit demonstrieren. Denn immer wieder sind Männer ertrunken im Fjord, an dem die Geschichte des Ehepaars spielt; jüngstes Trauma ist das Verschwinden Asles, der vor zwölf Jahren auf dem Fjord blieb.
Seinen Leichnam fand man nie, und vielleicht ist das der Grund für die nicht vernarbende Wunde Signes, die den letzten gemeinsamen Abend zwanghaft immer wieder durchlebt. Warum er immer auf den Fjord fuhr – schon zu Asles Lebzeiten begriff sie es nicht. Nie hat sie seine Liebe zur Natur verstanden, war eifersüchtig auf Boot und Fjord.
Doch ob dies die Beziehung störte – sie weiß es bis heute nicht. „Aber zwischen ihnen stimmt doch alles, alles ist gut … niemals ein böses Wort zwischen ihnen“, beteuert sie. Asle wiederum leugnet, dass er sie meidet – und will sich an jenem Abend, der immer wieder eingeblendet wird, doch nicht umdrehen zum Haus, weil er weiß, dass sie nach ihm schaut. Sein Leben wird heller, wenn er auf den Fjord fährt: „Es ist, als ob das Schwere, das das Leben sonst anfüllt, … zu Bewegung würde.“ Worin die Schwere liegt? Vielleicht ist es der enge Fjord, vielleicht die Ehe. Asle eruiert es nicht.
Sich selbst zu ergründen gelingt keinem der Partner, auch wenn sie sich stetig nach ihren eigenen Motiven fragen: „Muss alles einen Grund haben?“, fragt Asle schließlich. Muss alles rational erfassbar sein? Eigentlich schon, finden Asle und Signe in ihren Selbstgesprächen. Und so üben sie sich darin, poetische Gedanken durch Ratio zu übertönen: „Es ist, als würden die Berge ausatmen, … nein, jetzt muss sie aber mal aufhören, denkt sie, von wegen die Berge atmen aus, so was kann man nicht denken.“ Mühsam gelingt die Selbstdisziplinierung. Dabei wäre die Verknüpfung beider Hemisphären wohl der Schlüssel zur Wahrnehmung atmosphärischer Unterströmungen. Doch beide fürchten, dass sie ihr Leben neu sortieren müssten, wenn an die Stelle der Worte deren monströse Zwischenräume träten. Und so umkreist Signe mit den immer gleichen Textbausteinen vergangene Szenen, die sie sich so auf Abstand hält, sauber mumifiziert.
Asles Flucht ist das Boot – aber auch er bleibt im System, das heißt auf dem Kerker Fjord. Und letztlich überrascht es nicht, dass der einzige Ausweg der Tod scheint: nicht als gezielter Suizid, wohl aber als in Kauf genommenes Ertrinken „en passant“. In einer stürmischen Novembernacht. Wohin er steuert? Auf jenes merkwürdige Feuer zu, in dessen Flammen er seine Ahnen sieht. Zum Beispiel seine Großmutter Alise, deren Enkel einst jämmerlich ertrank. Mit sieben Jahren. An seinem Geburtstag, im Fjord. PETRA SCHELLEN
Jon Fosse: Das ist Alise. Hamburg: Marebuchverlag 2003; 120 S., 18 Euro