■ Schöner leben: Schlachthof Ost
Der moderne Städter ist bekanntlich von der Natur entfremdet. Fleisch kommt ihm und uns nur als abstraktes Stück auf den Tisch. Und bei Nacht, allein, draußen auf dem Land, fährt uns beim kleinsten Geräusch der Schrecken in die Glieder. Es stünde also schlimm um uns und das Abendland, wenn es nicht den SV-Werder gäbe, nicht die halbfertige neue Ostkurve und nicht die Stehplatz-Dauerkarte, die uns nach einem Ratschluß der Vereinsoberen dazu zwingt, von der geschlossenen Nordgerade auf die Baustelle umzuziehen.
„Mann, was muß ich wieder schlimm aussehen“, denke ich, schon streifen die Hände des pickeligen Burschen im roten Overall über den Körper, greifen nach imaginären Flaschen und Feuerwerkskörpern, derweil die Frau – eben noch an meiner Seite – schon die Treppe hinaufstürmt. Eine Suche und das Wiedersehen irgendwo im Gewühle zwischen Bierverkauf, Kissenverleih und Pommesbude. Fritten in der rechten und die Bratwurst in der linken Hand, geht es hinein in die Ostkurven-Katakomben und dann hinaus auf die Tribüne.
Mehr Komfort und eine bessere Sicht – „auch auf den Stehplätzen“ – lautete das zuvor gegebenene und zur Hälfte gehaltene Versprechen. Denn die Sicht ist besser, doch der sogenannte Komfort weckt seltsame Erinnerungen.
Vierzig, vielleicht sechzig Zentimeter tief sind die Tribünenstufen und voneinander abgrenzt durch Gitter, die bis zum Bauchnabel reichen. Zu der allein durch den müden Kick auf dem Rasen unterbrochenen Dauerberieselung mit Reklame in Bild und Ton und einem Werbeumfeld namens „Fan TV“ schwanken wir nur so zum Spaß nach vorn und zurück und fallen nicht um. Doch erst nach Abpfiff fällt uns ein, welche Architektur für diesen „Komfort“ Pate stand. Da strömen von allen Rängen und Tribünen die Menschen in die Ostkurven-Katakomben und gröhlen und schwitzen und drängeln. Wir sind in einem Schlachthof gelandet und fühlen uns mittendrin für endlose Minuten der Natur ganz nahe.
Christoph Köster
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