■ Schöner Leben: Kastaniellen
Manche streift jetzt ein blasser Schauder von Erinnerung: Was war das noch gleich, wenn die Tage wieder kürzer, kühler, wenn nicht noch kälter werden? Richtig, das war der Herbst. Sommerfuzzis fangen nun augenblicklich an zu kreischen, schwören Stein und Bein, dieses Wort noch nie gehört zu haben, und machen die Augen zu, damit der Herbst sie nicht sieht.
Aber meinereins schlägt jetzt das Herz hoch und rollt mit dem Rollkragenpullover durch die Parkanlagen. Und wehe, da sülzen einzelne Blätter an sturen Bäumen um Verschonung: nix da, weg damit, jetzt kommt der Herbst. Jetzt hat alle sumsige Sumsigkeit ein Ende, jetzt wird wieder innerlich eingekehrt, daß die Schwarte kracht und den Kamin anmacht. Draußen klappern schließlich schon die Kastaniellen, und drinnen werden jetzt gefälligst wieder Kakaogefühle wach und ertrinken mit Sahnehäubchen im Sofa.
Ja, alles ist zu und zu ein Segen, weil man nicht mehr raus muß, sondern höchstens kann, und das auch nur, wenn man will. Und will man zum Beispiel grade, dann regnets, und man macht die Tür wieder zu. Daraufhin überläßt man sich seinen tiefgehenden Gedanken, die ja auch nur kommen, wenn sonst grade keiner da ist oder draußen was von einem will. Das ist dann aber auch ein Tiefgang, der keinen Aufschub mehr duldet – und am Ende schwappt mindestens ein gelöstes Welträtsel an die Oberfläche. Wo ihm dann zwar manchmal die Erkenntnis wieder abhanden kommt, aber unten war es trotzdem schön, wenn auch dunkel. Das geht deswegen nur im Herbst.
Der Sommer ist für sowas zu platt grell. Da geht ja nicht das eine in das andere über, sondern setzt sich ununterbrochen voneinander ab: blau von gelb, grün von rot, Himmel von Erde undsoweiter. Im Herbst verwischen dafür die Ränder, und alle Farben laufen am Ende über wie Synkopen. Danach hört sich alles auf, am Ende die Welt, zieht aber vorher nochmal leise durch mein Gemüte. Ist doch ganz nett, oder? Claudia Kohlhase
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