Schlichtungsgespräche zu "Stuttgart 21": Ab jetzt kommt's auf den Tisch
Gegner und Befürworter von "Stuttgart 21" reden miteinander, und das Fernsehen ist live dabei. Tübingens Grüner OB Palmer aber bezweifelt, dass am Ende eine Schlichtung steht.
STUTTGART/BERLIN taz/dpa/dapd | Der Streit über Stuttgart 21 wird zum Deutschland-Event: In der baden-württembergischen Landeshauptstadt gehen am heutigen Freitag die von CDU-Politiker Heiner Geißler moderierten Schlichtungsgespräche zwischen Gegnern und Befürwortern des umstrittenen Großbauprojekts in Stuttgart in die nächste Runde.
Die Gespräche, bei der gemeinsam mit Experten die Fakten zum geplanten Bahnhofsbau erörtert werden sollen, werden ab 10 Uhr live vom Fernsehsender Phoenix und dem SWR sowie im Internet übertragen. Thema der ersten Runde: die Leistungsfähigkeit der geplanten unterirdischen Durchgangsstation anstelle des bisherigen Kopfbahnhofs.
Die Seite der Befürworter wird von Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) und Verkehrsministerin Tanja Gönner angeführt. Die Gegner werden unter anderem durch Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) und den Grünen-Landtagsabgeordneten Werner Wölfle vertreten. Beide Seiten werden zunächst eine jeweils 45 Minuten lange Präsentation des Themas liefern, bevor die Teilnehmer in eine Diskussion eintreten.
Schlichter: Heiner Geißler
Gegner: - Klaus Arnoldi, Verkehrsclub Deutschland, stv. Landesvorsitzender - Peter Conradi, Architekt - Brigitte Dahlbender, Bund für Umwelt und Naturschutz, Landeschefin - Boris Palmer, Grüne, Oberbürgermeister Tübingen - Hannes Rockenbauch, Stadtrat Stuttgart Ökologisch Sozial, Stuttgart - Gangolf Stocker, Initiative Leben in Stuttgart kein Stuttgart 21 - Werner Wölfle, Landtagsabgeordneter der Grünen
Befürworter: - Bernhard Bauer, Ministerialdirektor, Umwelt- und Verkehrsministerium - Thomas Bopp (CDU), Vorsitzender des Verbands Region Stuttgart - Johannes Bräuchle, Pfarrer, Initiative Pro Stuttgart 21 - Tanja Gönner (CDU), Ministerin für Umwelt, Naturschutz und Verkehr - Volker Kefer, Vorstandsmitglied der Deutschen Bahn AG - Stefan Mappus (CDU), Ministerpräsident - Wolfgang Schuster (CDU), Oberbürgermeister Stuttgart
Die Schlichtung war nach zähem Ringen erst vor einer Woche zustande gekommen. Bis Ende November wollen Gegner und Befürworter mindestens einmal wöchentlich Argumente austauschen. Laut Geißler sind weitere Themen der Schlichtung die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, die Kosten- und Wirtschaftlichkeitsrechnung des Projekts, Geologie, Sicherheit und Bauablauf, Ökologie und städtebauliche Entwicklung und die von den Gegnern propagierte Projektalternative "Kopfbahnhof 21". Die Gegner halten die Verlegung des Hauptbahnhofs unter die Erde und seinen Anschluss an die Schnellbahntrasse mit Kosten von 4,1 Milliarden Euro für viel zu teuer und unnötig.
Der Sprecher des Fahrgastverbandes "Pro Bahn", Matthias Oomen, sagte am Donnerstag: "Wir hoffen, dass die Deutsche Bahn am Freitag Antworten auf brisante Fragen geben wird." Der Verband befürchtet etwa, dass durch eine wesentlich geringere Gleisanzahl des neuen unterirdischen Bahnhofs rasch strukturelle Engpässe durch einzelne verspätete Züge entstehen könnten, die auch Auswirkungen auf den überregionalen Bahnverkehr haben könnten.
Der Leipziger Volkszeitung sagte Tübingens OB Boris Palmer, er könne sich nicht vorstellen, dass am Ende des von Heiner Geißler moderierten Abstimmungsprozess zwischen Landesregierung, Bahn und Protestbewegung ein gemeinsames Ergebnis steht. "Dafür müssten sich sehr viele mir zugängliche Informationen als falsch erweisen. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Aber ich bin dann bereit, meine Meinung zu ändern, wenn sich die Faktenlage ändert. Das hoffe ich auch von der anderen Seite", so Palmer. Seiner Meinung nach müsse aber ein Volksentscheid am Ende des jetzigen Verfahrens stehen. Sonst ließe sich die Situation nicht befrieden.
Fest stehe schon jetzt, so ergänzte der Grünen-Politiker: "Schwarz-Grün in Baden-Württemberg kann man für die nächste Wahl vergessen. Wer die Polizei auf die Bürgerschaft loslässt, um sich als entschlossener Macher zu profilieren und sich dabei auch noch so verkalkuliert wie Herr Mappus, der kann nicht mit uns regieren. Und mit dem können und wollen wir nicht regieren."
Bahnchef glaubt an Stimmungswechsel
Bahnchef Rüdiger Grube erhofft sich dagegen von der Schlichtung einen Meinungsumschwung zugunsten des Milliarden-Projekts. Er sagte: "Ich bin sehr zuversichtlich, dass ein Abwägen der Argumente in der Öffentlichkeit - insbesondere was Stuttgart betrifft - eine entsprechende Änderung in der öffentlichen Meinungsbildung bringt." Der Bahnchef unterstrich, dass er auch große Zustimmung zu dem umstrittenen Vorhaben bekomme. "Ganz viele wollen es."
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte sich bei einem Auftritt in Heilbronn erneut hinter das Projekt. Sie kritisierte aber, dass oftmals bei Großprojekten die Kosten zu Beginn kleingerechnet werden. "Es wäre auch nicht schlecht, wenn bei Großprojekten die Kostenschätzungen mal einigermaßen stimmen würden", sagte die CDU-Vorsitzende am Donnerstagabend bei einer Regionalkonferenz ihrer Partei. Sie appellierte an die Träger solcher Vorhaben: "Sagt am Anfang den richtigen Preis", dann sei die Enttäuschung hinterher nicht so groß. Auch wegen dieser Fehler falle es der Politik oft schwer, die Projekte zu verteidigen.
Baden-Württemberg brauche das Bahnprojekt Stuttgart 21, um verkehrlich und wirtschaftlich nicht abgehängt zu werden, sagte Merkel. "Das ist kluge Zukunftspolitik, wie wir sie brauchen." Deshalb müsse die CDU standhaft bleiben.
Vor Beginn der Schlichtungsgespräche hat Vermittler Heiner Geißler (CDU) die Bedeutung des Treffens hervorgehoben. "Das, was wir heute machen ist vielleicht ein Protoyp für später. Dass eben die Regierenden bereit sind, sich mit Bürgerinitiativen an einen Tisch zu setzen und auf Augenhöhe zu diskutieren und nicht von oben nach unten", sagte der ehemalige CDU-Generalsekretär im ZDF-Morgenmagazin am Freitag. So könnten die Argumente gleichberechtigt ausgetauscht werden. "Das würde ich auch für andere Projekte empfehlen", fügte er hinzu.
"Stuttgart 21"-Gegner gehen nach Berlin
Unterdessen bemühen sich die Stuttgart-21-Gegner verstärkt darum, die bundesweite Dimension der Auseinandersetzung weiter in den Vordergrund zu rücken. "Für dieses Prestigeprojekt werden die Steuerzahler in ganz Deutschland zur Kasse gebeten, und zwar von der Bundesregierung", sagte Valentin Funk von der Stuttgarter Gruppe "Parkschützer" am Donnerstag in Berlin. Alexis Passadakis vom Koordinierungskreis des globalisierungskritischen Netzwerks Attac sagte: "Obwohl sie öffentlich ist, agiert die Deutsche Bahn - noch immer mit Blick auf einen Börsengang - als privater Konzern." Er forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu auf, das Projekt zu stoppen und eine demokratische Kontrolle der Bahn zu ermöglichen.
Die Bahnhofsgegner wollen ihren Protest nicht nur verbal und via Fernsehübertragung vermitteln, sondern mit zahlreichen Veranstaltungen und einem bunten Kulturprotest auch ganz konkret in die Bundeshauptstadt tragen. Für den kommenden Dienstag kündigt das Bündnis ein ganztägiges Aktionsprogramm in Berlin an, zu dem unter anderem 600 Menschen aus Stuttgart mit einem Protestsonderzug anreisen werden.
In Berlin wollen sie einen Widerstandsbaum vor dem Kanzleramt einpflanzen und bei der Schweizer Botschaft einen ironischen Antrag auf Aufnahme der Stadt Stuttgart als neuen Kanton der Schweiz stellen. Denn dort sind im Gegensatz zu Baden-Württemberg und Deutschland weitreichende Volksabstimmungen eine Selbstverständlichkeit.
Bei ihrem Berlin-Besuch wollen die Demonstrierenden mit Bundestagsabgeordneten zusammenkommen, eine kulturelle Protestschifffahrt durch das Regierungsviertel veranstalten und um 17 Uhr mit einer Kundgebung und einem sogenannten Schwabenstreich vor der Konzernzentrale der Deutschen Bahn lautstark protestieren. In der baden-württembergischen Landeshauptstadt demonstrieren bereits seit Monaten Tausende von Menschen gegen das Projekt, den bisherigen Kopfbahnhof durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof zu ersetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana