: Schleichende Wortzerstäubung
Mit Montage filmischer Elemente ins Theaterstück ist es nicht getan: Igor Bauersima zerschlägt im Doppelselbstmord-Stück „norway.today“ den Aberglauben an die Authentizität des Bildes. Premiere heute im Thalia in der Gaußstraße
Nein. Sie schaffen‘s nicht: Je authentischer Julie und August vom Leben Abschied nehmen wollen, desto weniger gelingt es: „Das klang total fake“, sagt die junge Julie in Igor Bauersimas norway.today, das heute am Thalia in der Gaußstraße Premiere hat, als sie Augusts Abschiedsworte filmt; „Da seh ich total hysterisch aus“, kommentiert sie dann ihre eigenen Versuche. Dabei war‘s als perfekter Mix aus Virtualität und Realität gedacht, das Selbsmord-Spiel im norwegischen Felsplateau Prekestolen, das 600 Meter in die Tiefe ragt.
Per Internet haben sich die beiden Jugendlichen zum Selbstmord verabredet – ein auf realer Begebenheit basierender Plot, den der 1964 in Prag geborene, in der Schweiz aufgewachsene Bauersima in Jugendsprech gießt, ohne dass sich sagen ließe, ob hier das Psychogramm einer ausgesogenen Generation oder der methodische Zweifel im Zentrum steht.
Immer wieder vermengen sich im Stück Realität, Internet und Film, und letztlich ist auch der Betrachter nicht sicher, ob die beiden wirklich nach Norwegen reisen, bis zur Felskante trappeln und erst angesichts eines Polarlichts ins Leben zurückfinden. „Wären wir gestern gesprungen, wir hätten das Polarlicht verpasst“, konstatiert Julie. „Ich mag dich“, sagt sie dann zu August, den sie gerade noch in die Schlucht stürzen wollte.
Aber den Härtetest besteht auch Julie nicht: Als sie nach einem Ausrutscher über der Schlucht baumelt, fordert sie – nicht mehr todesmutig – August auf, sie zu retten. Sollte er also bloß inszeniert werden, der Film vom eigenen Tod – so genial, dass es der realen Ausführung nicht mehr bedarf? Wäre das die Lösung für das „ungelebte Leben“ – die auf Video gebannte Inszenierung? „Der Film doubelt die Realität“, schrieb ein Kritiker über das 2000 in Düsseldorf uraufgeführte Stück. Aber beginnt die Kamera nicht ein Eigenleben? Oder hinkt der Film der Realität hinterher – wie in jenem Augenblick, in der das Video weiterhin Julies und Augusts Liebesszene im Zelt zeigt, während beide bereits draußen zum Publikum sprechen? Ist die Kamera zum Statikum geworden, zu träge, um authentisch zu sein?
„Es geht um das Einbrechen des Films ins Theater“, heißt es über das Stück. Aber das ist es nicht allein. Dem Autor liegt nichts an belehrender Wiederholung solcher Montagetechnik. Er geht weiter und zerfasert Worte und Gedanken der beiden, die fünf-, sechsmal ihr Abschieds-Video proben und immer fahriger werden. Die Worte zerstäuben, sie spüren es und fassen es nicht: „Es kann doch nicht so schwer sein, sich zu verabschieden“, sagt Julie und bemerkt entsetzt, dass das Gefakte authentischer klingt als echte Sentimentalität. Und fast scheint es, als sei es die Kamera, die alles fahrig macht, die nicht verdichtet, bannt, sondern vernebelt; subtile Medienkritik lagert hier unter dem lapidar formulierten Text.
Und wenn auch die Lösung – Polarlicht ex machina bzw. „Liebe ist stärker als der Tod“ – denkbar sentimental ist, haben die beiden immerhin gespürt, dass allein der Anspruch auf Authentizität „echtes“ Leben unmöglich macht, weil sofort Konstruiertheit und Verkrampfung einsetzen. Und weil das Resultat allenfalls eine „auf authentisch gestylte“ Variante sein kann. Die das Eigentliche wieder nicht fasst.
PETRA SCHELLEN
Premiere Donnerstag, 9. Januar, 20 Uhr, Thalia, Gaußstraße 190