■ Schlagloch: Wenn Ostdeutsche zuviel reden Von Nadja Klinger
„Wir wurden ins Wasser geworfen und wollen auch schwimmen. Aber das Wasser muß man uns dazu schon lassen.“
Christine Haufe aus
Sachsen, Unternehmerin
des Jahres, „Sächsische
Zeitung“, 4.10. 1996
Seit die Ostdeutschen reden dürfen, reden sie komisches Zeug. Und zwar immer dann, wenn alle es hören können. Ich schalte den Fernseher ein. Es gehe ihm „ums Prinzip“, sagt der Chef der ostdeutschen Angler. Sein Verein hat sich immer noch nicht mit dem westdeutschen Pendant vereinigt. Er wolle sich „nicht unterbuttern“ lassen, erklärt der Mann.
Im Radio höre ich, wie Steffen Heitmann fordert, der nächste Bundespräsident solle aus den neuen Ländern kommen, dann würden endlich die „ostdeutschen Biographien“ ernstgenommen. Monika Hauff sagt in einer Zeitschrift, daß sie mit ihren Volksliedern „beide Teile unseres Landes zusammenbringen“ wird.
Es mußten sechs Jahre freie Rede vergehen, daß ich mich jetzt traue, öffentlich zu gestehen: Ich kann es nicht hören, wenn die Ostdeutschen über sich reden. Wahrscheinlich liegt das daran, daß sie immer „wir“ sagen und damit wohl auch mich meinen. Sie verwenden jedoch Begriffe, die alles über nichts sagen. Die Ostdeutschen sind dabei, sich zu inszenieren.
Sie reden nicht nur, sie machen auch so komisches Zeug. Sie stellen etwas dar, zur Not sogar etwas Lächerliches, denn ansonsten würden sie nichts darstellen.
Neulich zum Beispiel führte der Hausmeister vom Palast der Republik das ZDF durch sein Haus. Er trug einen weißen, durchgehenden und hochgeschlossenen Arbeitsanzug, wie man ihn im Fernsehen zuletzt bei Karen Silkwood sehen konnte, und eine Atemschutzmaske. Was er dahinter sagte, war kaum zu verstehen. Man sah ihn nur in seiner angstmachenden Aufmachung im Haus des Volkes stehen und hilflos gestikulieren. Wehmut kroch aus dem Fernseher ins ostdeutsche Wohnzimmer. Das Lächerliche konnte nur sehen, wer es schaffte, nüchtern zu bleiben: Die Atemschutzmaske bedeckte nur den Mund. In jeder Sprechpause schniefte der Hausmeister tief durch die Nase Asbest.
In Reinhardtsgrimma im Osterzgebirge wohnt hinter fast jeder Tür eine „ostdeutsche Biographie“. Aus den Häusern fließt nach wie vor das Abwasser in den Bach. Das ist gegen die neuen Bestimmungen, doch die Gemeinde hat kein Geld. „Wir können nichts tun“, sagen die Leute.
Der Bach fließt in den Dorfteich. Die Forellen in dem Teich schwimmen knapp unter der Wasseroberfläche und schnappen öfter als gewöhnlich nach Luft. Die Männer von Reinhardtsgrimma brauchen sie nicht zu angeln. Jedes Jahr im Oktober lassen sie Wasser aus dem Teich ab und greifen einfach zu. Das Forellengreifen zieht sich über drei Wochen hin. Auch am sechsten Jahrestag der deutschen Einheit herrscht am Dorfteich reges Treiben. „Die Befindlichkeit ist gut“, sagt ein Reinhardtsgrimmaer der Lokalzeitung.
Die Gemeindevertretung hat per Oktober 1996 eine Polizeiverordnung erlassen. Die entspricht den Bestimmungen der alten Bundesrepublik. Sie schreibt den Bewohnern vor, wann und wie sie ihre Hausnummern anzubringen haben, wo ihre Kinder nicht spielen dürfen und daß sie ihre Autos nur mit biologisch abbaubaren Zusätzen (!) waschen dürfen. Alles ist also in bester Ordnung. Die Befindlichkeit ist gut. Wenn nicht, kann der Bürger ja die Polizei holen.
Nicht zuletzt die Leute, deren Aufgabe es sein sollte, ihre Leser, Hörer und Zuschauer auf andere Gedanken zu bringen als jene, die ihnen von alleine kommen, haben keine Idee. Im sechsten Oktober der deutschen Einheit ruft mich eine Wochenzeitung an und bestellt ein Porträt über eine „ostdeutsche Aufsteigerin“. Wahrscheinlich soll das besonders originell sein. Und damit der Blick sich bei aller Originalität nicht vom Schlimmen abwendet, ist das Gegenstück, ein Porträt vom „westdeutschen Absteiger“, auch schon bestellt. Das Leben der Ostdeutschen scheint undenkbar ohne das Leben der Westdeutschen, das so ganz anders war.
Sechs Jahre deutsche Einheit sind dahingegangen, und wie weit sind die Ostdeutschen gekommen? Die Antworten jedenfalls, die sie auf diese Frage geben, sind seit sechs Jahren dieselben. Die Ostdeutschen stoßen diese Antworten mit der schlechten Luft aus. Ohne eine Atempause, in der sie darüber nachdenken könnten, was sie da eben gemeint haben.
Was sind „ostdeutsche Biographien“? Kann man Biographien „ernst nehmen“? Wohin steigen die „Aufsteiger“ auf, und wieviel verlieren die „Verlierer“? Was läßt sich mit „Befindlichkeit“ entschuldigen? In welchem „Wasser“ will Christine Haufe, die sächsische Unternehmerin des Jahres, schwimmen? Wer hat es ihr abgelassen? Und wie?
„Es ist doch klar wie Kloßbrühe, was zwischen Osten und Westen los ist“, meint ein „Sprachrohr der Enttäuschten“ auf der Berliner „Gegendemonstration“ am 3. Oktober. In Wirklichkeit ist nichts klar. In Wirklichkeit ist Kloßbrühe eine undurchsichtige Soße. In Wirklichkeit ist den Ostdeutschen die Feindseligkeit des Westens recht. Der Blick auf den Feind lenkt den Blick auf sich selbst ab.
Das ist eine ungerechte Behauptung gegenüber denen, die seit dem Ende der DDR auch über ihre eigenen engen Grenzen gegangen sind. Das ist auch ungerecht denen gegenüber, denen es heute sozial sehr viel schlechter geht als vor sechs Jahren.
In Wirklichkeit aber sind die meisten Ostdeutschen zunächst mit hohem Tempo in den Westen eingeritten. Dort haben sie schnell gemerkt, daß, wer nichts mitbringt auch nichts zu bestellen hat. Nun aber hatten sie auf ihrem schnellen Ritt alles abgeworfen. Es blieb ihnen nur noch – ihre Biographie. Weil diese Ostdeutschen aber weder so genau wußten, wer sie einmal waren, noch, wer sie hätten sein wollen, geschweige denn, warum beides nicht übereingestimmt hat, konnten sie ihre Biographie nur dadurch kenntlich machen, daß sie „anders“ ist als die der Westdeutschen.
In Wirklichkeit hat sich der Anglerverein-Ost längst „unterbuttern lassen“. Wer jahrelang auf einem Prinzip herumreitet, der kommt jahrelang nicht vorwärts. Und wundert sich, mit den Westdeutschen nicht einmal über Fische reden zu können. Die Ostdeutschen sind schuld, daß sie heute als Jammerlappen dastehen. Sie allein sind es, die Verständnis für ihre Situation wecken könnten. Wahrscheinlich jammern sie, weil sie sich selber nicht verstehen.
Günter Gaus, der ein so großes Herz für die Ostdeutschen hat, daß sein Weit- und Durchblick wohl jede Abneigung gegen sie darin bequem unterbringen kann, schrieb dieser Tage im Freitag, die Ostdeutschen hätten Angst. Die Angst sei ihre Chance, sich irgendwann doch noch dem Westen anzunähern: „Das Ende der sozialen Barmherzigkeit wird im Laufe der Zeit schon eine neue, real existierende nationale Gemeinsamkeit bewirken.“ Gemeinsamkeit, das wäre schön. Aber es wäre schade, wenn das Ende der sozialen Barmherzigkeit der Grund dafür sein sollte.
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