piwik no script img

Schirm & ChiffreAbendschau mit Influenza

■ Die Hauptstadt im Spiegelbild des Regionalfernsehens – Folge 1: Die Abendschau des SFB

Draußen feixt die helle Sonne in den Hinterhof. Ganz Berlin taumelt frischerdings in die Mai- Wonnen. Und ich liege sterbenskrank in meiner dunklen Einraumhöhle. Eiskalt erwischt von den gräßlichen Killerviren, die einen dieser Tage so gern anfallen, um dann ihren bösen Schabernack mit einem zu treiben: Fieber, Rachenkatarrh, Kopf-, Kreuz- und Gliederschmerzen, der komplette Knock-out, ein Himmelreich für eine Schnabeltasse ...

Und was macht der Siechende in seiner stillen Verzweiflung? Er richtet die fieberglänzenden Augen auf die Fernsehtruhe und guckt die „Abendschau“, um wenigstens dergestalt über die Berliner Vorgänge „rundum informiert zu sein“. Zuerst das Wetter: Das ist natürlich prächtig! „Das Thermometer KLETTERT bis auf 17 Grad.“ Na und? Ich komme herinnen locker auf 39,2. Spielend. Ich glühe.

Die katholische Kirche „Sankt Canisius“ auch. Hätt' man sie lieber mal Sankt Florian geheißen! Im Augenblick brennt sie nämlich lichterloh. Ein Feuerwehroberst ruft in das vom Reporter hingehaltene Mikrophon: „Spezial-Trennschleiferscheiben müssen her, um an den Brandherd ranzukommen.“ Der Pfarrer ist traurig im O-Ton. Zwei Buben, hat man herausgefunden, waren es, „die im Außenbereich gekokelt haben“.

Nächster Beitrag: OUUUPS! – Um Gottes willen, was ist das denn?! Da sind sie! – die Spezial- Trennschleiferscheiben! Doktor Ferdinand macht die „Bypassoperation am schlagenden Herzen“ (gibt's außer an der Charité nur noch in Texas und in Dingsbumsdings). Hereinspaziert und zugeschaut. Die „Abendschau“ öffnet den Brustkorb für Sie: SPLATTER, SPLATTER, SPLATTER! Mir schwinden die Sinne. Mein Herz! Muß ich sterben? Bypass?!

Moderatorin Angelika Neumann läßt sich nix anmerken: „Unsere Stadt“, sagt sie. Dann geht die Rede vom „Mekka der Medizin“. Jetzt merke ich es endlich: Die „Abendschau“ ist ein wahrer Thesaurus der geflügelten Worte. Hier wimmelt es nur so von Floskeln und Sinnsprüchen und guten Wünschen. Auf der Buga blüht die Blütenpracht. Beim Straßenfest herrscht gute Laune. Gerne beendet man die Beiträge mit der nach allen Richtungen offenen Wendung: „Ob es gelingen kann, muß sich zeigen.“ Wie wahr, wie wahr.

Und nun zum Sport. Auftritt von Anne Will. Ein Lichtblick! Eine Ahnung von Rekonvaleszenz fliegt mich an: „Liebe Anne Will“, krächze ich ihr vom Krankenlager aus zu, „ich liebe Ihr spitzbübisches Lächeln.“ Hier spricht die große Ironikerin unter den ModeratorInnen. Da wird selbst für den Fußballunkundigen die Zweitligatabelle zur vergnüglichen Schnurre. (Ans Herz gewachsen, das möchte ich an dieser Stelle loswerden, ist mir auch Frau Ruth Diehl, welche die Nachrichten liest. Ein Mensch, der sich dem Süssmuthschen Gesichtsmodernisierungsfuror standhaft widersetzt hat: keine bunte Eye-Wear, keine jugendliche Frisur. Wie anders dagegen Kollege Michael Flotho. Oh, verehrte Fernsehschaffende, laßt ab, laßt ab, laßt ab ...)

Weiter geht's mit dem „Ersten Mai“. In Prenzlauer Berg löscht die Pollessai ein Straßenfest mit Tränengas. Die „Abendschau“ kritisiert das milde. Ich nicke ein. Harter Übergang zur Chronik „Berlin vor 50 Jahren“. Ehemalige Balina BDMädels und HJungs erzählen von früher. Dazu markige Worte über die Frontverläufe aus dem Off. Das ist doch Wahnsinn! Ich spinne. Ich deliriere. Der Krieg ist doch vorbei! Umnachtung. Dann tiefer Schlaf. Endlich, endlich auf dem Weg der Genesung ... Martin Muser

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen