■ Scheibengericht: John Surman / John Warren
The Brass Project
ECM 517362-2
Manche Leute empfinden es als Plage, andere als Wohltat: Jeden Sonntagmorgen, pünktlich um acht – man kann die Uhr danach stellen –, bläst in meiner Heimatstadt der Posaunenchor vom Kirchturm herab. Problemlos könnte diese Aufgabe auch das Bläserensemble von John Surman und John Warren übernehmen, beginnt doch deren Kooperation mit einem Stück, das einem Bläserchoral nachempfunden ist. Allerdings hält der Rückgriff auf die alte Turmbläser- und Stadtpfeifertradition nicht lange an. Bald schon tastet sich die Musik in modernere Gefilde vor, Klarinette und Posaune üben sich im Zwiegespräch, das Schlagzeug kommt dazu und pulsiert in swingender Manier, bevor scharfgestochene Fanfarenstöße die Improvisatoren zum Thema zurück eskortieren. Das überschnelle Einschwenken in die bekannten Bahnen des New-Jazz- Mainstreams ist etwas schade, weil der Titel „Brass Project“ auf Kühneres hatte hoffen lassen, etwa eine jazzmäßige Auseinandersetzung mit dem Militärmarsch- und Polka-Repertoire der Blaskapellen und „Brassbands“, wie sie vor über hundert Jahren fast überall in Europa (und nicht nur da) entstanden sind. John Surman und John Warren hatten offensichtlich anderes im Sinn; ihnen ging es um das Ausreizen der Möglichkeiten eines größeren Bläserensembles im Kontext von modernem Jazz und Improvisation. Komplexe Kompositionen, aufwendige Arrangements und gediegene Soli bestimmen das Bild. Jazz wird zum hyperkultivierten Edelklang. Zu schön, um wahr zu sein. Alles ist so geschmackvoll drapiert, daß es einem des guten Geschmacks bald zuviel wird. Man sehnt sich nach einem Quertreiber. Wo ist die lärmende Bierzeltkapelle, die mit dröhnendem Humtata dieses Kunstidyll durcheinanderbringt?
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