Schach-Weltmeisterschaft: Vom Blitzdenker zum Zauderer
Titelverteidiger Viswanathan Anand lässt sich lange Zeit und verliert die Auftaktpartie gegen den bulgarischen Herausforderer Wesselin Topalow dennoch deutlich.
Die bulgarischen Schachfans bejubelten ihren Star: Wesselin Topalow demütigte beim WM-Auftakt am Samstag in Sofia Titelverteidiger Viswanathan Anand in nur 30 Zügen. Tosender Applaus brandete im Zentralen Militärklub auf, als der Weltmeister nach dem dritten Opfer des Herausforderers aufgab. So verlor der 40-Jährige selten - vor allem benötigte der "schnelle Brüter" aus Indien mit 93 Minuten mehr als doppelt so viel Bedenkzeit wie der sonst so bedächtig kalkulierende Topalow.
In der zweiten von maximal 12 Partien strebte Anand gestern mit "eigenem Aufschlag", den weißen Steinen, umgehend den Ausgleich an. Als Ausrede für die bittere Schlappe mochte der Verlierer nicht seine beschwerliche Anreise nach Sofia benutzen. Wegen der isländischen Vulkanasche war er nur dank einer 40-stündigen Autofahrt von Frankfurt aus rechtzeitig auf den Balkan gelangt. Der indische Schachverband hatte danach zwar eine Verschiebung um 3 Tage gefordert, der Schach-Weltverband Fide verlegte das erste Duell aber nur von Freitag auf Samstag. "Daran lag es nicht. Ich spielte einfach schlecht", streute sich Anand nach dem Debakel selbstkritisch Asche aufs Haupt.
Bei der merkwürdigen Eröffnungsfeier, in der alle eine Rede des bulgarischen Premierministers Bojko Borrisow erwarteten, tauchte unvermittelt die Bodybuilding-Ikone Ronnie Coleman (achtfacher Mr. Olympia) auf. Fast eine halbe Stunde später als Anand folgte der schmale Topalow, setzte sich, füllte wortlos sein Partieformular aus und rückte seine 16 Figuren auf dem Brett zurecht. Nachdem Coleman den beiden in Spanien lebenden Großmeistern die Hände geschüttelt hatte, stieß Schirmherr Borrisow für den Nationalhelden den Damenbauern zwei Felder nach vorne. Das Spiel entwickelte sich rasch, weil beide einem Duell des Bulgaren folgten, das jener beim Herausforderer-Match gegen Gata Kamsky (USA) gewagt hatte.
Im 16. Zug wich Anand als Erster mit einem Damenzug ab. Doch sein Kontrahent zeigte sich glänzend vorbereitet und folgte einer Idee der beiden Nachwuchsstars Sergej Karjakin (Russland) und Magnus Carlsen (Norwegen), der eine jüngster Großmeister aller Zeiten, der andere Weltranglistenerster vor den beiden WM-Kontrahenten. Als Schwarz im 23. Zug mit einem Königszug ein schwerer Fehler unterlief, durchschlug Topalow mit einem Springeropfer die Deckung. Die nächsten Angriffszüge kamen ebenfalls wie aus der Pistole geschossen. Am Ende der erfolgreichen Königshatz hatte der 35-Jährige nur 40 Minuten seiner zwei Stunden Bedenkzeit verbraucht. Ein Indiz dafür, dass er all dies bereits zu Hause mit seinen Sekundanten und Computern analysiert hatte - Topalow wollte dies jedoch nicht bestätigen. Anand murmelte dagegen, er habe "die Züge durcheinandergebracht". Ein Läuferzug nach d7 statt des fatalen Königszugs hätte die Opferorgie verhindern können.
Der Sieger des Duells über zwölf Partien erhält 1,2 Millionen Dollar. Der Verlierer muss sich mit 800.000 Euro bescheiden. Sollte es 6:6 stehen, folgt am 13. Mai eine Schnellschach-Verlängerung. Vor dem ersten Zug hatte der Weltmeister wegen der Flugausfälle eine Odyssee erlebt: Um nach seinem verhängnisvollen Zwischenstopp in Frankfurt überhaupt nach Sofia zu gelangen, hatte seine Gattin Aruna in den Niederlanden zwei Privatfahrer eines VIP-Services angeheuert. Die Transporter steuerten über Österreich, Ungarn und Rumänien dem Ziel entgegen. Die kürzeste Route über Belgrad blieb dem Weltranglistendritten verwehrt, weil Serbien anders als Rumänien von Indern ein Visum fordert. Am Schlagbaum in Bulgarien wurde der Schachweltmeister um Mitternacht sofort von den Zöllnern erkannt. Als der schwarze Mercedes Sprinter rund 100 Kilometer vor Sofia in einer 50er-Zone 74 km/h schnell raste, stoppte die Polizei die Delegation. Der holländische Verkehrssünder erklärte, wen er an Bord hatte, worauf der freundliche Offizier sie lachend entließ: "Gut, fahren Sie Anand nach Sofia - aber nicht zu schnell bitte!" Nach Topalows furiosem Auftaktsieg muss der Beamte vorerst keine Dienstbeschwerde fürchten.
VISWANATHAN ANAND
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin