Sanssouci: Vorschlag
■ JazzFest '92 und Total Music Meeting
Mit einem Praise The Lord könnte das JazzFest 1992 heute abend in der Philharmonie beginnen. Das Dach des Gebäudes ist geflickt, und so kann das Fest nach seinem letztjährigen Abstecher ins Haus der Kulturen der Welt an seinen ursprünglichen Standort zurückkehren. Gleich zum Auftakt am heutigen Donnerstag gibt es etwas Besonderes. Das Klaus König Orchestra trifft auf den „Montreal Jubilation Gospel Choir“. Das ist sogar dem Spiegel, sonst nicht unbedingt jazzbegeistert, in dieser Woche eine Seite wert.
Der zweiunddreißigjährige Klaus König hat sich den „Song of Songs“, das Hohelied Salomos, ausgesucht, um mit mächtigem Tamtam und Musikern in Massen den Kampf zwischen „Banalem und Surrealem“ (König) auszufechten. Kleine Bibelkunde gefällig? „Schön bist du, meine Freundin, ja du bist schön! Hinter dem Schleier deine Augen wie Tauben! Dein Haar gleicht einer Herde von Ziegen, die herabzieht von Gileads Bergen. Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, wie die Zwillinge einer Gazelle, die in den Lilien weiden.“ Und da zu einer echten Liebesgeschichte immer (mindestens) zwei gehören, hier auch gleich noch die Gegenposition: „Seine Schenkel sind Marmorsäulen, auf Sockeln von Feingold. Sein Mund ist voll Süße, alles ist Wonne an ihm. So ist mein Geliebter...“
Diese Love Story der Love Stories wird der Montreal Jubilation Gospel Choir mit den SolovokalistInnen Phil Minton (der Geliebte) und Jay Clayton (die Geliebte Sulamith) in der englischen Fassung singen. Zuhörer, die wissen wollen, wie die Liebesgeschichte ausgeht, sollten also eine deutsche Ausgabe des Alten Testaments mit in die Philharmonie bringen oder vorher ein intensives Bibelstudium betreiben. Die übrigen fünfzehn Musiker des Klaus König Orchestra werden dem Oratorium ordentlich den Jazzmarsch blasen. Ein ungewöhliches Experiment als Eröffnungkonzert bei einem Jazzfestival, das in den letzten Jahren häufig für seine mangelnde Experimentierfreudigkeit gescholten wurde.
Ungerührt von aller Kritik, zumindest äußerlich, zeigte sich auch in diesem Jahr wieder der künstlerische Leiter des Festivals, George Gruntz, auf der Pressekonferenz. Der Schweizer Big- Band-Impresario, seit 1981 Chef des damals von Jazz Tage in JazzFest umgetauften Festivals, hat das diesjährige Programm rund um die Schwerpunkte „Mallets“ und „Cabaret Jazz“ gruppiert. Der Abschlußabend am Sonntag in der Philharmonie gehört mit Konzerten von Peter Gigers „Jazz Meets Timbila“, „Marimba! Marimba!“ um David Friedman und den Vibraphonisten Wolfgang Schlüter und schlußendlich mit dem Milt Jackson Trio vollständig der Familie der Marimba- und Vibraphone. „Mallets“ heißen die Schlagstöcke (hat nichts mit Polizei zu tun), mit denen die Metall- oder Holzflächen klangerzeugerisch bearbeitet werden. Am Samstag abend wird man mit dem fünfundachtzigjährigen Lionel Hampton den Mann hören, der das Vibraphon für den Jazz entdeckt hat.
Der andere Schwerpunkt liegt für Gruntz in diesem Jahr beim „Cabaret Jazz“, ein Begriff, der nur im weitesten Sinne etwas mit dem zu tun hat, was wir uns gemeinhin unter Cabaret vorstellen. Das Klischee von der verruchten Sängerin und dem coolen Pianisten wird vielleicht am Samstag bedient, wenn die New Yorker Sängerin Kim Kalesti und der Pianist Marion Cowings auftreten. Ob dann in der Philharmonie ausnahmsweise das Rauchen und Biertrinken erlaubt wird?
Zurück zum heutigen Eröffnungskonzert. Nachdem König sein vorweihnachtliches Oratorium beendet hat, wird jemand erst mal ordentlich reinen Tisch machen: Fred Frith. Spätestens wer seinen Film „Step Across the Border“ gesehen hat, weiß, daß Frith in keine Schublade paßt, er ist weder Jazzer noch Rockmusiker, er scheint auf jeder Landstraße das zu machen, was ihm gefällt: mit netten Leuten merkwürdige Töne erzeugen. Sein jüngst erschienenes Album „Helter Skelter“ verquickt Opernarien mit allen Spielarten der instrumentellen Improvisation. Die französischen Musiker, mit denen er „Helter Skelter“ produziert hat, werden auch bei dem Konzert in Berlin dabeisein. Das Projekt heißt hier: „Que d'la Gueule“. Die Musiker sind Teilnehmer eines Modellprojekts „Berufsvorbereitung für Musiker“, das Frith für arbeitslose Musikanten in Marseille durchführte. „Que d'la Gueule“ heißt übrigens soviel wie „frei Schnauze“.
Parallel zum JazzFest findet traditionell das Total Music Meeting (TMM) statt. Das Festival für Improvisiertes und alles, was aus dem einstige „Free Jazz“ so wurde, feiert in diesem Jahr auch schon seinen 25. Geburtstag. Jost Gebers, Organisator seit Urzeiten, hält sich auch zum Jubiläum an die bekannten, bewährten Größen. Obwohl Gebers gerade die Computeranlage gestohlen wurde und damit die gesamte Adreßdatei flöten ging, hat er doch hauptsächlich alte Telefonnummern gewählt. Die Nummer von Peter Brötzmann weiß er wahrscheinlich auswendig. Alle Musiker, die auf dem mit dem TMM eng verknüpften FMP-Label Platten aufnehmen, waren meist auch beim Festival gern gesehen. Oder, wie es auf dem Programmzettel heißt: „Man ist fast versucht zu glauben, die freie Musik sei das einzige, was sich in den vergangenen 25 Jahren nicht geändert hat.“ Vielleicht macht die Kontinuität des TMM aber auch genau seinen besonderen Reiz aus; denn immer wieder gab es hier, oftmals im Gegensatz zum verknöcherten JazzFest, die Überraschungen frei Haus geliefert.
Passend zum Geburtstag wird Peter Brötzmann seinen Sohn Caspar dem Jazzvolk zum Fraße vorwerfen. Wenn die beiden im Podewil ähnlich aggressiv agieren wie vor Monaten im Loft, dann kann nicht viel schiefgehen. Beim Total Music Meeting weiß man aber vorher nicht einmal genau, wer zusammen spielt. Am ersten Abend sucht Peter Brötzmann die Besetzungen aus. Gebers wußte nur zu berichten, daß zunächst Brötzmann senior im Trio mit Dieter Manderscheid (Bass) und dem Schlagwerker Frank Samba spielt. Alles andere steht in den Sternen. Aber die stehen in diesem Jahr nach meinem Gefühl für beide Veranstaltungen relativ gut. Andreas Becker
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