Sanssouci: Nachschlag
■ „Murx den Europäer!“ von Christoph Marthaler
„Damit di Zeit nicht stehenbleibt“ steht in weißen Lettern an der Rückwand des holzgetäfelten Bühnenraumes, das fehlende „e“ ist dem Zahn derselben offenbar bereits zum Opfer gefallen. Auf der großen Normaluhr über dem Aufzug stehen die Zeiger auf eine Minute vor acht, die Armbanduhren des zumeist jugendlichen Premierenpublikums in Castorfs Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz melden dagegen erst 19.46 Uhr.
Auf der Bühne sitzen bereits die elf in sich gekehrten Gestalten, die das Geschehen in den nächsten zwei Stunden bestimmen werden. Verteilt an zwölf Kantinentischen, starren sie dumpf- summend vor sich hin; ein Hausmeister schmeißt einen großen Heizkessel an, während sich der murmelnde A-cappella-Gesang von der Bühne unmerklich mit dem Murmeln im Zuschauerraum vermischt, wo das Licht noch nicht gelöscht ist und die Zeit an den Handgelenken langsam auf acht Uhr zusteuert. „...empor! ...empor!“ läßt sich in rhythmischen Abständen von vorne vernehmen, dann etwas deutlicher „...glühend empor!“ Noch klingt alles undeutlich, noch ist das Licht im Parkett nicht verlöscht. Später, als der Abend seinen Lauf genommen hat, wenn das Ensemble laut und deutlich „Flamme empor!“ intonieren wird, dann werden die jungen Zuschauer, denen das alte Nazilied nicht so geläufig ist, wieder an diese Eingangszene erinnert werden. Die Zeit bleibt nicht stehen an diesem Abend in der Volksbühne. In „Murx den Europäer!“, dem patriotischen Abend von Christoph Marthaler, dreht sie sich unablässig im Kreis.
In dieser seltsamen Wartehalle, in der die Normaluhr es aufgegeben hat, die Zeit fortzuschreiben, vermag nichts niemanden aus seiner Vereinzelung zu lösen – außer vielleicht die alten deutschen Lieder, die sozialistischen, die nationalsozialistischen, die deutsch-demokratischen und die christlichen. Die Leere, die zwischen hingeworfenen grotesken Sätzen und unkoordinierten Handlungen entsteht, sie wird nur durch die assoziativen Gesangseinlagen aufgebrochen. Aus der beliebigen Ansammlung isolierter Individuen wird dann für ein paar Takte eine wohlklingende geeinigte Sangesgemeinschaft, die den Inhalt der geschichtlich belasteten Liedtexte jedoch ganz offenbar nicht zur Kenntnis nehmen will. Alles kommt hier zu allem, kein Akteur ist mit einer politischen Überzeugung in Verbindung zu bringen: Eben noch schmetterte Winfried Wagner das Sozialistenlied „Vorwärts und nicht vergessen“, da stimmt er schon mit der gleichen Begeisterung in „Flamme empor!“ ein.
Gedanken zum Fremden in Deutschland will Christoph Marthaler mit diesem Stück entwickeln: „Wenn ein Fremder unter einer Brücke steht, und unter der fährt eine Eisenbahn mit Fremden, dann sind da Fremde unter Fremden“, läßt er Wilfried Ortmann immer wieder in den Raum hinein sprechen, und das Publikum lacht, weil es diesen Vorstoß endlich als Komik zu entschlüsseln meint. Lustig auch die Revueeinlage des Ensembles, das im Stile der dreißiger Jahre den alten Gassenhauer „Ich laß mir meinen Körper schwarz bepinseln und gehe nach den Fidschiinseln“ zum besten gibt. Sinnentlehrte Groteske oder hintergründige Auseinandersetzung mit dem wiedererwachten deutschen Rassismus?
Ohne Pardon konfrontiert Marthaler sein Publikum mit dem Chaos der deutschen Geschichte, beschwert seine Inszenierung mit einer Fülle von sich widersprechenden Assoziationen. Da erklingt mal ein HJ-Lied, mal die moderne evangelische Lobeshymne „Danke für diesen guten Morgen“, und aus den glühend knisternden Öfen hört man leise „Auferstanden aus Ruinen“. Vor zehn Jahren hat der Schweizer Minimal-art-Künstler damit begonnen, nach seinen eigenen Vorstellungen Theater zu machen. In der rund um die Uhr geöffneten Züricher „Bellevue“- Apotheke ließ er 24 Stunden lang die Vexations von Satie spielen, die wissenden Besucher des Minimal-Festivals trafen sich in Marthalers Setting unwillkürlich mit den unbedarften Apothekenkunden. Erzwungene Begegnungen mit der Kunst bestimmten auch seine Arbeit im Baseler Badischen Bahnhof, wo Marthaler aus Anlaß des 50. Jahrestages der Kristallnacht einen ungewöhnlichen Theaterabend organisierte: In den Wartesälen des Bahnhofs standen die Schauspieler in schweren Wintermänteln neben Drop-out-Gestalten der Gegenwart, es wurde Klezmermusik gespielt, und aus den schrillen Lautsprechern klang verzerrt Schuberts „Winterreise“. Assoziative Erinnerungen an die sich jährende Vergangenheit verbanden sich mit den profanen Realitäten der Gegenwart. Zuschauer, Reisende und Schauspieler trafen ungeschützt aufeinander.
Die Leitmotive von Marthalers Inszenierungen sind immer musikalisch, auch seine mit Castorfs Ensemble erarbeitete „Murx“-Inszenierung gewinnt ihre beeindruckende Dichte vor allem aus den gesanglichen Einlagen des konzentriert agierenden Ensembles. Die Buchstaben des Sinnspruchs fallen wohltemperiert in das scheinbar absichtslose Agieren der Personen, und selbst die spontanen Reaktionen des zuweilen irritierten Premierenpublikums wirken wie integrierte Versatzstücke der Inszenierung. Viel Wissen um die Herkunft der Musikzitate setzt Marthaler voraus, wer jung aus dem Osten in diese nun geeinte Republik kam, liest seinen Text ganz anders als die wenigen älteren Zuschauer, die mit dem nationalsozialistischen Kulturgut noch erlebte Geschichte verbinden (müssen). Vieles bleibt in diesen zwei Stunden absichtsvoll vage, nichts in der Waage glatter Gesellschaftskritik.
So entließ dieser Abend die meisten Zuschauer beeindruckt, einige aber auch ratlos. Zuviel womöglich verdrängte Emotionen waren aufgebrochen worden, ohne daß eine klare Stellungnahme zu dem „Gut“ und „Böse“ der Geschichtsdeutung nachgereicht worden war. In den begeisterten Schlußapplaus mischten sich dann zwangsläufig auch wütende Buhrufe, von denen, die vom Theater vor allem klare Deutungsmuster erwarten. In dieser sich im Kreis drehenden Zeit ist es aber gerade ein Verdienst, sich von solchen Ansprüchen zu befreien. Klaudia Brunst
Weitere Vorstellungen: 23. und 24. Januar, 19.30 Uhr. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
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