Sanssouci: Nachschlag
■ Zwangsvorstellungen
Walter Schmidinger vor dem Rathaus D. Baltzer/Sequenz
Am Dienstag meldeten sich noch einmal alle Sympathisanten des Schiller Theaters vor dem Roten Rathaus zu Wort. Auf der Kundgebung zur Rettung der Staatlichen Bühnen sprach neben vielen Politikern auch Walter Schmidinger, selbst Ensemblemitglied des nun abgewickelten Hauses. Weil wir seine Valentin-Rezitation für den vielleicht substantiellsten, in jedem Fall interessantesten Beitrag aller Befürworter des Schiller Theaters halten, drucken wir ihn hier im Wortlaut nach.
[...] Schuld daran – nur der Staat. Warum wird kein Theaterzwang eingeführt? Wenn jeder Mensch in das Theater gehen muß, wird die Sache gleich anders. Warum ist der Schulzwang eingeführt? Kein Schüler würde die Schule besuchen, wenn er nicht müßte. Beim Theater, wenn es auch nicht leicht ist, würde sich das unschwer ebenfalls doch vielleicht einführen lassen. Der gute Wille und die Pflicht bringen alles zustande. [...]
Es ist absolut nicht einerlei, wenn ich sage: soll ich heute ins Theater gehen, oder wenn es heißt: ich muß heute ins Theater gehen. [...] Der Staatsbürger weiß, daß er ins Theater muß – er braucht sich kein Stück mehr heraussuchen, er hat keinen Zweifel darüber, soll ich mir heute „Tristan und Isolde“ anschauen – nein, er muß sich's anschauen – denn es ist seine Pflicht.
Er ist gezwungen, dreihundertfünfundsechzigmal im Jahr ins Theater zu gehen, ob es ihm nun vor dem Theater graust oder nicht. Einem Schüler graust es auch, in die Schule zu gehen, aber er geht gern hinein, weil er muß. – Zwang! – Nur durch Zwang ist heute unser Theaterpublikum zum Theaterbesuch zu zwingen. Mit guten Worten haben wir jetzt Jahrzehnte hindurch wenig Erfolg gehabt. [...] Auf eine Stadt wie Berlin also – ausgenommen die Säuglinge und Kinder unter acht Jahren, Bettlägrige und Greise – täglich rund zwei Millionen Theaterbesuchspflichtige, eine Zahl, die die jetzige Theaterbesuchszahl der Freiwilligen weit überschreitet. [...]
Sollte die vorgeschlagene „Allgemeine Theaterbesuchspflicht“, genannt „ATBPF“, zur Einführung kommen und, wie oben erwähnt, täglich zwei Millionen Menschen in das Theater zwingen, müssen in einer Stadt wie Berlin zwanzig Theater mit je hunderttausend Plätzen zur Verfügung stehen. Oder vierzig Theater mit je zwölftausendfünfhundert Plätzen – oder dreihundertzwanzig Theater mit je sechstausendzweihundertfünfzig Plätzen – oder sechshundertvierzig Theater mit dreitausendeinhundertfünfundzwanzig Plätzen – oder zwei Millionen Theater mit je einem Platz.
Was aber dann für eine famose Stimmung in einem vollbesetzten Hause mit, sagen wir, fünfzigtausend Besuchern herrscht, weiß nur jeder Darsteller selbst. Nur durch solche eminente Machtmittel kann man den leeren Häusern auf die Füße helfen [...] – nur durch Zwang – und zwingen kann den Staatsbürger nur der Staat. Karl Valentin
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