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SanssouciVorschlag

■ Peter Brooks „L'homme qui“ im Berliner Ensemble

Der Patient legt sein Rasiermesser beiseite, sieht in den Spiegel und ist zufrieden. Zwar ist eine Seite seines Gesichts noch eingeseift, trotzdem meint er, sich vollständig rasiert zu haben. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, könnte das Motto des Patienten mit dem neurologischen Defekt lauten. Was dem Mann mit der fehlenden Eigenwahrnehmung für die linke Seite seines Körpers dann widerfährt, wird vom japanischen Schauspieler Yoshi Oida so gespielt, daß es zu einer verstörenden Szene in Peter Brooks „L'homme qui“ kommt: Der Arzt hat den Patienten mit der Videokamera aufgenommen und zeigt ihm nun sein Gesicht auf dem Videoschirm. Yoshi Odias Blick flackert hektisch zwischen Spiegelbild und Schirm, plötzlich wird ihm der partielle Verlust seiner Eigenwahrnehmung bewußt. Er bricht zusammen und fleht, der Arzt solle aufhören.

Auch die Stimmung des Zuschauers, der gerade noch lachen mußte, schlägt um. Und das kann ihm während des kaum zweistündigen tragikomischen Abends, der auf Oliver Sacks Bestseller „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ basiert, immer wieder passieren. Er sieht Tics und Leiden von Patienten, die komödiantisch oder verzweifelt ihre Defekte infolge eines Unfalls, eines Schocks oder Alkoholmißbrauchs verteidigen. Und dann passiert es: Sobald der Arzt herausgefunden hat, wie er sie mit ihrer Krankheit konfrontieren kann, gerät ihr System ins Wanken – mit unterschiedlichen Ergebnissen allerdings, wie etwa bei dem Mann mit tausend Tics und anfallartigen Zuckungen. Er kompensiert eine Störung im Hypothalamus dadurch, daß er seine überschießende Motorik und Formulierkunst nutzt, indem er ein genialer Entertainer wird. Maurice Benichou ist in dieser Szene ein fulminanter Ticeur, der seine Tics behalten will und sogar an die Rampe tritt, um dem Publikum zu erklären, seine Krankheit sei bei den Ärzten gerade sehr in Mode gekommen. Ironisch distanziert ist er, bevor es in seinem Gesicht wieder wetterleuchtet. Benichous Theater im Theater ist die Umsetzung eines Grundphänomens, auf das man in Oliver Sacks Bestseller immer wieder stößt: Die Patienten sind häufig in der Lage, ihren Defekt derart phantasievoll zu überspielen, daß die Grenze zwischen pathologischer und „normaler Realität“ verschwimmt.

„Nur durch die Suche nach einem neuen Unterscheidungsvermögen können wir die Horizonte des Realen weiter stecken“, schreibt Peter Brook in „Der leere Raum“. Mit „L'homme qui“ bietet er eine theatralische Dokumentation an, die unser Unterscheidungsvermögen für Realitäten neben dem sogenannten Normalen schärft und bei der immer wieder die Verbindungslinien zwischen den Welten durchscheinen. Jürgen Berger

„L'homme qui – eine theatralische Recherche von Peter Brook“: Heute, am 4./5. und 7.–9. September im Berliner Ensemble. Am 4. September um 16 Uhr findet im BE ein Publikumsgespräch mit dem Ensemble von Peter Brook statt.

Peter Brook am Samstag im BEFoto: David Baltzer/Sequenz

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