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SanssouciVorschlag

■ Musik ist Experiment

Musik läßt sich nicht auf einen Begriff bringen. Dennoch reden wir über Musik und verwenden dabei Begriffe, die den Anspruch haben, das musikalisch Ausgedrückte zu erfassen. Doch die Zweiweltenlehre von der U- und E-Musik macht dabei bloß sinnfällig, was andere Unterscheidungen wie die in Stile, Gattungen und Richtungen im Grunde sind: willkürlich gesetzte Begriffsgeländer, an denen diejenigen hermeneutischen Halt finden können, die der Gefahr des musikalischen Hörens ausgesetzt sind.

Das Musikerinnen-Festival „Wie es ihr gefällt“, das ab heute zum dritten Mal in Berlin stattfindet, ist darin konsequent: Die 50 Musikerinnen aus 15 Ländern verstehen ihre Musik als Experiment. Das heißt bei ihnen nicht nur Experiment mit dem musikalischen Material, sondern ebenso mit der Erfahrung von Musik.

Die verschiedenen Solokünstlerinnen und Bands des Festivals vereint daher auch kein gemeinsames ästhetisches Konzept. Vielmehr verbindet sie die Arbeit an der Auflösung festgeschriebener Konzepte. Der Werdegang von Joälle Leandre, Kontrabassistin und Sängerin aus Paris, zeigt, daß auch die Auflösung der Form formal kontrolliert werden muß: klassische Ausbildung, dann Bassistin im Orchestre de Paris und im Ensemble Intercontemporain von Pierre Boulez, die Zusammenarbeit mit Cage, Neue Musik, Free Music, Free Jazz, heute improvisierte Musik... Für das Festival hat sie ein Soloprogramm aus Eigenkompositionen und Stücken von Scelsi und Cage einstudiert.

Die Arbeit der Berliner Pianistin Ulrike Haage, die die meisten wohl durch ihre Arbeit bei den „Rainbirds“ kennen, als minimalistisch zu bezeichnen, kann nur die beruhigen, die ohne begrifflichen Halt ihr musikalisches Gleichgewicht verlieren. Sie improvisiert mit „Versatzstücken“, musikalischen Formeln der Romantik, Rhythmen aus Jazz und Pop, bis uns das Wohlvertraute und Oftgehörte fremd und neu erscheint. Der Schritt über die Form hinaus ist bei Ulrike Haage, Maggie Nicols oder der Rocksängerin Susanne Lewis weder bloße Negation noch ein Spiel. Während das Spiel seine Lust in der Feier der reinen Form findet, suchen diese Künstlerinnen des Experiments eine eigensinnigere Lust, die ihr Gesetz nicht in der letztendlichen Bestätigung der Form, sondern in deren rückhaltloser Brechung hat.

Der ästhetische Anspruch des Festivals ist kühn, sein Einsatz der Auftritt erstklassiger Musikerinnen aus der ganzen Welt. Daß sich bei diesem Festival ausschließlich Frauen auf der Bühne präsentieren, hat pragmatische und politische Gründe: Musikerinnen müssen sich ihren Platz in der musikalischen Öffentlichkeit erst erobern. Daß auf diesem Festival nicht nur für Frauenohren gespielt wird, ist für alle beteiligten Musikerinnen selbstverständlich. Denn Musik hat kein Geschlecht. Andrea Kern

Musikerinnen-Festival „Wie es ihr gefällt“ vom 4.11. bis zum 7.11. im SO 36, Oranienstraße 190, Kreuzberg, Beginn Do.–Sa. um 20.30 Uhr, am Sonntag um 19.30 Uhr.

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