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■ „Unterwelten“ – Fotografien von Peter Seidel

Führungsbunker der SED-Bezirksleitung Suhl Abb.: Katalog

Betrachtet man die Fotografien von Peter Seidel, so erinnert man sich vielleicht an den Filmklassiker „Der dritte Mann“ – insbesondere an den Dialog zwischen Colonel Calloway und dem Trivialautor Holly Martins: „Wir sind hier an einem der Einstiege zum Hauptkanal unter der Stadt.“ „Und jeder Mensch“, fragt Martins, „kann da hinuntersteigen?“ – „Jeder ...“ – „Und wie weit kann man da unten gehen?“ – „Durch ganz Wien (...) Wenn man sich im Kanalnetz auskennt, kann man an jedem Punkt der Stadt wieder herauskommen.“ Genau diese unterirdische Architektur fasziniert den Fotografen Peter Seidel. In den letzten sechs Jahren reiste er durch Deutschland und fotografierte, was aus oberirdischer „Grasnarbensicht“ oft nicht einmal zu erahnen ist.

Seine Ausbeute, die derzeit in der Kommunalen Galerie Wilmersdorf zu sehen ist, reicht quer durch die Jahrhunderte, von der Jungsteinzeit bis zur Gegenwart. „Schranzellöcher“ hat der Fotograf beispielsweise entdeckt, künstliche Höhlen und Gänge mit kompliziertem Verlauf, die zu unbekanntem Zweck unter mittelalterlichen Gehöften angelegt wurden. Dann sind da die Bunker und Militäranlagen. Seidel gewährt unter anderem Einblick in das Kontroll- und Reportagezentrum der Nato bei München, wo der Himmel elektronisch unter die Erde geholt wird. Oder in den zentralen Kommandobunker des Nationalen Verteidigungsrates: In einem erschütterungssicheren Bunker, der freischwebend aufgehängt war, konnte selbst bei Schräglage der Außenwelt von 30 Prozent noch in aufrechter Haltung kommandiert werden. Ein schönes Beispiel sozialistischen Einheitsmobiliars dokumentiert auch der Schutzbunker für den militärischen Ernstfall, den sich die SED-Bezirksleitung in Suhl in den achtziger Jahren unter dem Decknamen „Ferienobjekt Dr. Richard Sorge“ bauen ließ. Seidels ungewöhnlichste Entdeckung ist jedoch der Keller des Ateliergebäudes der Akademie der Künste der DDR. Er hat dort Wandbilder fotografiert, die im oberirdischen Malbetrieb des einheitlich sozialistischen Realismus nie geduldet worden wären: großflächige Frauen- und Männerkörper, deutlich von Picasso inspiriert. Es sind Relikte von Studentenfeten in den fünfziger Jahren.

Bemerkenswert ist auch die Präsentation in der Kommunalen Galerie: die Bilder hängen – leider schlecht ausgeleuchtet – in den Kellerfluren des Verwaltungsgebäudes. Wenn man die deutsche Verwaltungsbürokratie kennt, muß man es schon als ein kleines Wunder bezeichnen, daß die Bauaufsicht einem solchen Projekt ihre Zustimmung gegeben hat. Dieter Wulf

Bis 21.1. (außer 22.12.-9.1.), Mo-Fr: 10-18 Uhr, So: 11-17 Uhr, Kommunale Galerie Wilmersdorf, Hohenzollerndamm 176.

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