Sanssouci: Nachschlag
■ Barthes auf dem Theater
Foto: Thomas Aurin
Eine Reise. Im Suchschiff Alpha 27 X 312 sitzt Käpt'n Walter in einem Drehstuhl und beobachtet durch drei Bullaugen mutierte Säuglinge wie exotische fliegende Fische. Seit 23 Jahren ist es seine Mission, das Fremde zu erforschen, seit 23 Jahren ist er erfolglos. Nun wagt er das Äußerste, verläßt zur Kontaktaufnahme das Raumschiff, dies aber ausgerechnet in dem Moment, in dem ein krabbelndes Schrumpfkind eindringt. Und plötzlich scheint Walter der eigentlich Fremde zu sein. Der ausgeschlossene Eingeschlossene. Ein Versuch.
Regisseur Armin Petras, der in Frankfurt (Oder) mit schrecklich komischen Katastrophen verblüffte, unternimmt mit dem Hellersdorfer „Weiten Theater“ eine theatrale Recherche. Inspiriert durch Roland Barthes' Essays „Mythen des Alltags“, entschleiert er das Fremde im scheinbar Nichtfremden. In den Verfehlungen zwischen Mann und Frau, in Bruchstücken unseres mediengebürsteten Bewußtseins, in Lügenbildern unserer Wahrnehmung. Ein Rätsel. Die Entdeckungsfahrt beginnt scheinbar banal. Im Forschungszimmer des Alpha 27 X 312, halb Nautilus, halb Enterprise, läuft die Kaffeemaschine. Eine Logbucheintragung wird vermeldet, die blau-weiß uniformierte Bordbesatzung ist von der zu langen Reise und zuwenig Zucker ermattet. Durch Selbstversuche – Spiele im Spiel – erforschen sie im Bekannten das Unbekannte. Die Geburt als erste Erfahrung des Fremdseins ist ein Schmerzensschrei der Mutter und der ängstliche Freudentanz des Neugeborenen. Das Laufenlernen wird zum turnerisch-komischen Pas de deux zwischen Vater und dem entsetzt Bodenkontakt meidenden Kind. Und die kühl wie aus der Zeitung vorgetragene Geschichte Ödipus' zeigt den Menschen, der sich selbst ein Rätsel ist. Fremd ist nicht nur das Verhältnis des Menschen zum anderen, fremd – und verfremdet – ist auch unsere Wahrnehmung davon. Wir blicken durch Bullaugen auf die Welt und sehen nur die Welt durch Bullaugen.
Von einem spielerischen Ernst und Können getragen, von klugen Texten Georg Simmels und Antonio Gramcsis kommentiert, wird der Abend eine faszinierende Erkundung des Menschen, der Menschen erkundet. Denn ohne sich dagegen sperren zu können, besteigt der Besucher gewissermaßen selbst die Alpha 28 auf Erkundungsfahrt der Alpha 27. Wir blicken vom Parkett auf das Schauspiel und sehen nur das Schauspiel vom Parkett aus. Dirk Nümann
Noch heute, 10 Uhr, Weites Theater, Schkeuditzer Straße 3, Hellersdorf. Weitere Aufführungen sind zu erfragen unter Tel.: 991 79 27
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