Sanssouci: Vorschlag
■ Das Sibelius Orchester spielt Schostakowitschs 9. Sinfonie
„Ständig werde ich gebeten, meine Memoiren zu schreiben. Wozu? Hören Sie doch meine Musik, da ist alles gesagt.“ So der Komponist Dimitri Schostakowitsch, dessen Leben – bei nur kurzen Erholungspausen – ein einziger Kampf mit den Kulturfunktionären der Sowjetunion war. Zweifellos überschätzte er dabei das musikalische Interpretationsvermögen der Menschen, aber daß es eine wechselseitige Beziehung zwischen Kompositionssituation und dem Werk gibt, steht außer Frage. Die 9. Sinfonie etwa komponierte Schostakowitsch 1945. Doch anstelle der eigentlich fälligen Siegeshymne gibt es eine knappe halbe Stunde meisterhafte parodistische Spielereien zu hören, die nach der Uraufführung von der Partei als Schlag ins Gesicht aufgefaßt wurden. Die Interpretation der offiziellen Kritik: Es zeige sich eine „Neigung zur Welt der entarteten, abstoßenden und pathologischen Erscheinungen“. In der Sowjetunion wurde die Sinfonie jahrzehntelang nicht gespielt. Was die kommunistischen Funktionäre nicht einsehen wollten, war die Tatsache, daß gerade die Schwierigkeiten der angemessenen musikalischen Interpretation und die letztendliche Unmöglichkeit der vollständigen Erfassung das Hören anspruchsvoller Musik so interessant machen.
Am Sonntag bietet das Sibelius Orchester Konzertbesuchern die Gelegenheit, eigene Interpretationsversuche der 9. Sinfonie zu unternehmen. Dem 21jährigen Dirigenten Wladimir Jurowski aus Moskau, der seit drei Jahren in Berlin lebt, liegt viel daran, im Programm die Verbindung Rußland/Sowjetunion–Berlin/ Deutschland herzustellen. In Deutschland wurde Schostakowitschs Sinfonie häufig aufgeführt, und der Russe Michail Glinka hat seine „Valse Fantasie“ kurz vor seinem Tod in Berlin komponiert. Auch das Werk „Abii no viderem“ (Ich gehe, um nicht zu sehen) des georgischen Komponisten Gija Kantscheli paßt in diesen Rahmen. Vor zwei Jahren nach Berlin gekommen, verabschiedete er sich hierin musikalisch von seiner krisengeschüttelten Heimat. Daß er die deutsche Erstaufführung dem Sibelius Orchester überläßt, zeugt von dem hohen Niveau des Orchesters, das kaum professionelle Musiker in seinen Reihen hat. Zur Aufführung der einen oder anderen Passage hat Kantscheli einiges zu sagen, aber zur Interpretation des Stückes über den Titel hinaus? „Hören Sie doch die Musik, da ist alles gesagt.“ Helmut Krähe
Am 6.2., 20 Uhr, Kammermusiksaal der Philharmonie, Mattäikirchstraße 1, Tiergarten.
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