Sanssouci: Nachschlag
■ Pocken und Museumspolitik - zwei Ausstellungen im Heimatmuseum Charlottenburg
England im Jahre 1776. Edward Jenner begann, sich über die ungewöhnliche Schönheit der englischen Melkerinnen zu wundern. Jenner war Arzt und in England grassierten die Pocken. Zwanzig Jahre beobachtete er die Kuhmägde, bis er herausfand, daß ihre Schönheit vor allem in ihrer Unversehrtheit lag. Denn zu jener Zeit trug nahezu jeder, der die Pocken überlebte, ihre Zeichen im Gesicht. Auf dem Land war es aber üblich gewesen, an Pocken erkrankte Kühe dennoch zu melken, und so konnten kleine Dosierungen der Kuhpocken über die Hände der Melkerinnen gelangen. Der Grundstein moderner Impf-Medizin war gelegt. „Kinder, Kühe, Koryphäen – Pocken zwischen Alltag, Medizin und Politik“ heißt die Ausstellung im Heimatmuseum Charlottenburg. Possierlich aufbereitet, wartet sie mit mancherlei unappetitlichem Detail auf. Auch Anekdoten aus der Frühzeit der Medizin sind darunter. So habe König Karl V. von Frankreich die Pocken-Epidemie nur dank der roten Socken überstanden, die zu tragen man ihm zur Abwehr des Übels empfahl.
Über die Geschichte der Pockenbekämpfung Bescheid zu wissen, kann nie schaden, Wesentlicheres ist indessen ein Stockwerk tiefer ausgestellt: eine Dokumentation der Diskussion um die „Zukunft der Charlottenburger Kulturlandschaft“. Das sei eine Antwort auf die verschleppte Planungspolitik des Senats, sagt Birgit Jochens, die Leiterin des Museums. Einerseits sei beschlossen worden, die durch Teilung und Plünderung auseinandergerissenen musealen Bestände der Stadt wieder zusammenzulegen. Andererseits werde jetzt aber alles auf die lange Bank geschoben, und eine konzeptionelle Mitarbeit des Bezirks sei auch nicht erwünscht, meint Jochens.
Gerade Charlottenburg hat es schwer getroffen: Die Galerie der Romantik, das Ägyptische Museum, das Antikenmuseum und das Museum für Vor- und Frühgeschichte ziehen in den nächsten Jahren zurück auf die Museumsinsel in Berlin-Mitte. Im Bezirk ist man sich noch nicht einig, ob das nun als Rückgabe oder doch eher als Abgabe anzusehen ist. Die Stiftungsentscheidung, die bis jetzt nur Papier ist, macht sich in den negativen Folgen aber bereits bemerkbar: die Besucherzahlen sinken und Buchläden schließen. Dabei ist mit dem Umzug nicht vor dem Jahr 2000 zu rechnen! Die Ausstellung im Heimatmuseum dokumentiert das Problem und stellt gleichzeitig Alternativen vor, wie Charlottenburg als Museumsbezirk zu erhalten sei. In die Räume des Ägyptischen Museums könnte beispielsweise eine Porzellansammlung einziehen. Auch ein Frauen- und ein Medienmuseum sind vorgesehen, Fragebögen laden die Besucher zur Stellungnahme ein. Sollte alles wie geplant laufen, könnte der Substanzverlust für den Museumsring rund ums Charlottenburger Schloß abgewendet werden, betont Frau Jochens noch mal. Mal sehen, ob der gute Wille trägt. Julia von Trotha
„Kinder, Kühe, Koryphäen“ bis 30.10.; „Die Zukunft der Charlottenburger Kulturlandschaft“ bis 30.9., Di-Fr 10-17 Uhr, So 11-17 Uhr, Heimatmuseum Charlottenburg, Schloßstraße 69.
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