Sanssouci: Nachschlag
■ Marion Titze im Buchhändlerkeller
Es kommt immer jemand anders, als man denkt: angekündigt war am Donnerstagabend im Buchhändlerkeller am Savignyplatz Ivan Klima, wer kam, war Marion Titze. „Wegen familiärer Probleme“, so hieß es, konnte der tschechische Schriftsteller nicht kommen. Vielleicht gab es wieder Zoff mit oder zwischen seinen beiden Frauen, über die man im kleinen Prag genau Bescheid weiß. Lieber zwei Frauen, als eine Idee: Die Ankündigung von Marion Titzes Debüterzählung „Unbekannter Verlust“ versprach eben nicht das Beste. Novalis liebte Sophie, seine Muse in den „Hymnen der Nacht“, und darüber will in der Nachwendezeit ein ostdeutscher Regisseur einen Film drehen, der selbstverständlich scheitert. Dazwischen Nebel, viel Nebel, Sehnsucht, Schmerz und deutsche Romantik. Friedlich sind die Träume, ein Alptraum die Wirklichkeit – wenn das mal nur gutgeht.
Aber man wurde aufs angenehmste enttäuscht. Marion Titze ist keine der ostdeutschen Klageweiber vom Stamme der Wolfs, Königsdorfs oder Hensels. Ihre Traurigkeit ist kein emotionaler Schlagstock, mit dem auf die utopiefreie Gegenwart eingedroschen wird.
Die Ich-Erzählerin, in einen Mann namens Joschku verliebt, mit dem Regisseur Daniel befreundet, weiß genau, wo ihre Verletzungen herkommen: von den Partei- und Filmbonzen bekam sie einst Berufsverbot, aber das war noch nicht einmal das Schlimmste. Titze erzählt kleine Episoden, die man schon längst vergessen hatte – den Alltagsterror in einer deutsch-demokratischen Kaufhalle etwa, wo jeder ein kleiner Kapo war, die Leute in der Warteschlange ebenso wie die anraunzende Kassiererin.
Auf den „Abschied vom Erziehungslager Ost“ trinkt die Ich- Erzählerin mit dem Regisseur, wundert sich mit ihm, daß der „Sargdeckel doch noch gehoben wurde“ und bleibt trotzdem traurig, ein verwundbares, fast elfisches Geschöpf. Dazu auch der Ton dieser seltsamen Prosa: ebenso traumwandlerisch wie traumsicher im Stil, kaum maniriert, behutsam und spröde. So sieht wohl, im besten Fall, die sprachliche Schönheit in diesem Lande aus. Man muß sie nicht unbedingt ins Herz geschlossen haben, all diese Nuancierungen von Wortlosigkeit und Schmerz, diese nordöstlichen Reflexionen und herbstlichen Spaziergänge. Unfreiwillig kommt heraus, daß dieses karge Land auch jenseits von Mauer und Stacheldraht aufgrund seines Klimas und der Mentalität seiner Bewohner noch über genug Energie verfügt, die Leute dunkel und sinnend und melancholisch zu machen. Sei's drum. Marion Titzes Buch aber ist im wahrsten Sinne fabelhaft und beschreibt eine Melancholie, die nicht nach der Repression schielt – immerhin eine schöne Überraschung. Marko Martin
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