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■ Ausstellung „Prager deutsche Literatur“ im Literaturhaus

Karl Kraus spottete damals, in Prag vermehrten sich die Lyriker wie die Bisamratten. Über ihre wahre Zahl schweigt sich die Ausstellung leider ebenso aus wie über die Größe der deutschsprachigen Minorität. Glaubt man dem Kafka-Freund Max Brod, gab es 1900 neben den 415.000 tschechischen 10.000 deutsche sowie 25.000 jüdische Einwohner Prags (von denen knapp die Hälfte deutsch sprachen). Angesichts dieser Zahlen ist die literarische Produktivität der deutschsprachigen Autoren beeindruckend.

Über den Titel der Ausstellung im Literaturhaus Berlin beschwerten sich zuerst die Österreicher. Das Epitheton deutsch in „Prager deutsche Literatur vom Expressionismus bis zu Exil und Verfolgung“ sei falsch, meinten sie, schließlich habe Prag bis zur Gründung der Tschechoslowakei zur Doppelmonarchie gehört. Und der tschechische Botschafter und Lyriker Juři Gruša sprach in seiner Eröffnungsrede diplomatisch von „Prag und seinen deutsch geschriebenen Büchern“. Dem Selbstverständnis der Prager Schriftsteller als Angehörige der deutschen Literatur, dem die Ausstellungsmacher Ernest Wichner und Herbert Wiesner gefolgt sind, begegnet man in Mitteleuropa mit Argwohn. Nach 1938, auch nach 1989, hört sich manches anders an.

Die bedruckten Textilbahnen und 22 abwechslungsreich gestaltete Vitrinen breiten den großen Reichtum einer Literatur aus, die auffallend oft Außenseiter und psychisch wie physisch gefährdete Existenzen darstellt. In thematischen Streiflichtern („Der jüngste Tag“, „Flugversuche“, „Außenseiter und Obsessionen“) werden den bekannten Autoren Ernst Weiß, Egon Erwin Kisch, Hermann Ungar und Franz Werfel die heute fast vergessenen Ludwig Winder, Johannes Urzidil oder Melchior Vischer zur Seite gestellt.

Die Beziehungen der Schriftsteller zu ihrer Stadt treten in der Ausstellung nur sporadisch hervor, wenn es etwa darum geht, wie Franz Werfel 1912 im Café Arco Gedichte rezitierte, oder wenn mit Hans Janowitz, Gustav Meyrink, Paul Leppin oder Leo Perutz den „Gespenstern des alten Prag“ nachgegangen wird: Dr. Caligari und dem Golem. Von Problemen des Zusammenlebens, von antisemitischen Ausschreitungen berichtet nur ein Originalbrief Franz Kafkas; Kontakte zu tschechoslowakischen Autoren und ihre Einflüsse bleiben völlig im dunkeln. Das Selbstverständnis der Künstler als Teil der deutschen Literaturgeschichte hätten die Ausstellungsmacher ein wenig hinterfragen sollen. In der Vitrine zu „Übersetzern und Mittlern“ sind einzig die Namen der übersetzten Autoren tschechisch. Das Literaturarchiv in Prag scheint sehr zurückhaltend mit seinen Schätzen gewesen zu sein.

Nach dem Ende des Prager Frühlings mußte der Literaturprofessor Eduard Goldstücker ins Exil gehen, weil er das Kafka- Tabu des Ostblocks mit zwei Konferenzen über die „Prager deutsche Literatur“ durchbrochen hatte. Inzwischen lebt er wieder in Prag, wo – nach einer Zwischenstation in Hamburg – Ende des Jahres die Ausstellung im Franz-Kafka-Zentrum zu sehen sein wird. Die Bücher kehren dorthin zurück, wo sie auf deutsch geschrieben worden sind. Zuvor aber hat die Ausstellung, und das ist ihr Verdienst, sie auch hier wieder eingebürgert. Jörg Plath

Prager deutsche Literatur vom Expressionismus bis zu Exil und Verfolgung. Bis 17. September. Literaturhaus, Fasanenstraße 23, Charlottenburg. Der vorzügliche Katalog kostet 40 Mark.

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