■ Sanssouci: Nachschlag i Living Theatre? "Citizens in Transit" im Ratibor Theater
Living Theatre. Der Name ist ein Synonym für den Traum von Theater als einer kollektiven, sinnlichen und radikal gesellschaftskritischen Lebensweise – der Einheit von „life, revolution and theatre“, wie es der 1985 gestorbene Mitbegründer Julian Beck nannte. Flower Power und Agitprop. 1951 wurde das Living Theatre von Beck und Judith Malina in New York gegründet, bei Europagastspielen Mitte und Ende der 70er Jahre feierte man die Truppe als Inkarnation des alternativen Theaters überhaupt. Ihre unorthodoxe, sämtliche Techniken zwischen Artaud und Brecht umfassende Arbeitsweise gab dem Irgendwie-was anderes-Wollen etlicher SchauspielerInnen Sinn und Form. Das Living Theatre – ein Virus, eine Legende.
Berlin-Kreuzberg, Ratibor Theater. „Citizens in Transit“ ist annonciert, eine Koproduktion von Theaterhof Priessenthal und – dem Living Theatre. Philip Brehse (New York City), Michael Steger (Augsburg) und Monika Jakobec (München) laufen im Karree über die Bühne, während eine Stimme von Band das Geschehen kommentiert und dem Publikum Eindrücke souffliert. Die drei tragen lumpenromantische Kostüme und mimen beim Laufen Schmerz, Erschöpfung, Verzückung etc. Als sie stehen bleiben, heißt es: „Wieder einmal haben die Schauspieler kläglich versagt, wieder einmal ist es mißlungen, die Welt zu verändern.“ Selbstironie, etwas anbiedernd vielleicht. Dann spielen sie Flüchtlinge, die in Deutschland die Freiheit suchen, und Deutsche, die im Urlaub die Freiheit suchen. Gerne skandieren sie die Worte („Ich ha-be kei-ne Ge-schich-te“) und unterstreichen die Silben mit ausufernden Bewegungen. Eine Monty-Python-Produktion? Nein, doch ernst gemeint und auch zu schlecht gespielt.
Später wird eine Zuschauerin mit Erleuchtungsversprechungen auf die Bühne gelockt und in einem Sandhaufen begraben. Totenwache. Kerzen werden im Publikum verteilt, wer sich nicht wehrt, muß ebenfalls ein bißchen auf der Bühne herumstehen. Dann wird die Zuschauerin wieder ausgegraben und als „einzige Überlebende der Katastrophe“ fotografiert. Selbsterfahrung! Gruppenerfahrung! Später sollen sich alle an den Händen fassen. Mein Gott. Einmal liefern sich Brehse und Steger als „Flüchtlinge“ einen wirklich beeindruckenden Schattenkampf hinter einem schrägen Paravent. In rotgrünes Licht getaucht, sehen sie aus wie Flaschengeister. Vielleicht wäre das ihr Medium.
Irgendwann haben die beiden wohl mal etwas beim Living Theatre gemacht, aber Rufmordklagen von Judith Malina wären in diesem Fall durchaus verständlich. Natürlich funktioniert das Modell des freien Theaters als einer Gegenöffentlichkeit heute ohnehin höchstens noch als nostalgische Verklärung, und die Form des Happenings auf der Bühne muß im Zeitalter des anything goes und everybody knows durch ein Konzept ersetzt werden. Aber so kunst- und hilflos wie in „Citizens in Transit“ müßte es doch wirklich nicht sein. Derartiges als „Theaterexperiment“ deklariert zu sehen, macht fast traurig. So floh denn auch ein Teil des Publikums bei der Vorstellung am Donnerstag – hinaus in die Wirklichkeit, die die drei „PerformerInnen“ wohl schon lange nicht mehr wahrgenommen haben. Petra Kohse
Bis 27. 8. und 31. 8.–3. 9., 20 Uhr, Ratibor Theater, Cuvrystr. 20
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen