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SanssouciVorschlag

■ Volksbühne zum Selberhören: Marthalers „Murx“ auf MC

Setzer Georg lacht noch heute mit seiner Freundin über die Geschichte, wie einer den Kochkurs „Backen ohne Mehl“ sucht und dabei in ein Zimmer kommt, in dem etliche nackte Männer Liegestütze machen, Kollegin Patricia überwindet einen Schlechte-Laune-Anfall nach wenigen Takten des „Danke“-Liedes – die neue Volksbühnendevotionalie ist etwas für die ganze Familie. „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab. Ein patriotischer Abend“, diese Schauspieler- Raum-Klang-Installation von Christoph Marthaler, die am 16.1. 1993 in der Volksbühne Premiere hatte, ist bestimmt und mit Recht die erfolgreichste Berliner Inszenierung der letzten Jahre, und auch auf Kassette sind die Lieder und Witze noch mindestens halb so schön. Etwa eine Stunde lang „Murx. Die Lieder“, aufgenommen vom ORB bei einer regulären Vorstellung.

Wer die Aufführung kennt, denkt an die freudlose Wartehalle von Anna Viebrock, in der ein knappes Dutzend SchauspielerInnen Zeit verbringt, „damit die Zeit nicht stehenbleibt“, wie eine Schrift auf der Rückwand mahnt. Man erinnert sich, wie Jürg Kienberger gekrümmt über die Bühne wuselt, wie sich Formationen bilden und auflösen, Auf- und Abgänge in schöner Sinnlosigkeit wiederholt werden. Und daß die DDR-Hymne „Auferstanden aus Ruinen“ aus einem Ofen heraus tönt. Aber auch rein akustisch stellen sich Räume her. Da hustet es wie im richtigen Leben, da sagt plötzlich jemand: „Ich grüße dich, alter Ozean“, es summt und murmelt, und immer wieder ergießt sich deutsche Sehnsucht, deutsche Gläubigkeit und deutscher Stolz in Noten der letzten Jahrhunderte. Michael Jacobis Zeilen „Wach auf, du Deutsches Reich“ von 1650 gehen umstandslos über in Heinz Bolten-Baeckers „Glühwürmchen, Glühwürmchen, flimmre“ von 1902 – ein Angebot. Gewidmet ist die Kassette dem Gedenken an den Volksbühnenschauspieler Wilfried Ortmann, der zum Premierenensemble gehörte und im März 1994 starb. Petra Kohse

„Murx. Die Lieder“, MC, 5 Mark; nächste Vorstellung dieses „patriotischen Abends“ von Christoph Marthaler am 30. 10., 19.30 Uhr, Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte

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