Sanssouci: Vorschlag
■ Festival langer Kurzfilme mit schönen Anfängen – Die 1. Berliner Independent Rolle im Kellerkino
Herr Müller ist wohl das, was man eine arme Sau nennt. Lethargisch sitzt er hinter der Theke seines kleinen Comicladens in Neukölln und ist selbst sein bester Kunde. Mit dümmlicher Miene verschlingt er ein Superman-Heft nach dem anderen. Auch nach Feierabend sitzt er mit einer Dose Ravioli und einem Haufen Comics auf dem Sofa und buchstabiert die Sprechblasen. Kein Wunder, daß so jemand irgendwann ausrastet, sich ein Superman-Kostüm schneidern läßt und im Kiez den Hilfssheriff spielt. Pech nur, daß der pummelige Müller zwar schnell fliegen lernt, den Hitzeblick aber nicht so recht unter Kontrolle kriegt, so daß die Flucht aus der Tristesse schnell an ihre bürokratischen Grenzen stößt.
Der Film Müller hebt ab von Gerhard Tietz läuft zur Zeit im Kellerkino im Rahmen der Berliner Independent Rolle. Das neu geschaffene Programm soll die Lücke zwischen Kurz- und Langfilmen schließen. Denn da die meisten Programmkinos und Festivals nur Kurzfilme von bis zu 15 Minuten Länge zeigen, kommen viele längere Filme zu kurz. „Müller hebt ab“ ist eine von drei Produktionen mit einer Zwischenlänge von 20 bis 30 Minuten, denen Thorsten Schneider vom Kellerkino die Chance geben will, sich einem größeren Publikum zu präsentieren. Angesichts seiner Auswahl stellt sich allerdings die Frage, ob die Filme tatsächlich aufgrund ihrer unüblichen Lage nicht gezeigt wurden, oder nur, weil sie schlichtweg zu schlecht sind. Denn obwohl die Super-Müller-Geschichte zum Teil recht trickreich und professionell inszeniert ist, machen die hölzern aufgesagten Dialoge den langen Kurzen schwer verdaulich. Was bleibt, ist der Spaß an der Berliner Proll-Folklore – aber dafür muß man ja eigentlich nicht ins Kino gehen.
Herr Müller aus Neukölln Foto: Kellerkino
Auch der zweite Film, Drei Jahre später, ist nicht nur längentechnisch zumindest zwiespältig. Was passiert eigentlich mit dem geschniegelten Leinwandhelden, der eben noch die Schurken besiegt hat, nachdem die letzte Szene im Kasten ist, hat sich Bilbo Calvez gefragt und einen Film mit einem schönen Anfang gedreht. Ein schwarzweißer Showdown im Görlitzer Park wie in einem französischen Gangsterfilm aus den Sechzigern, unterlegt mit einer dieser wunderbar psychedelischen Melodien. Dann jedoch wechselt der Film in Farbe und streift sämtlichen Charme ab. Der Kinoheld von einst führt drei Jahre nach dem Happy- End ein jämmerliches Dasein als Vorstadt-Strizzi zwischen Fernseher, Sofa und Kühlschrank. Die Frau, der er einst das Leben rettete, steht Lockenwickler-gekrönt im Türrahmen und beschimpft ihn undankbarerweise als Versager, was er mit einer tonlosen Wiederholung des Wortes Schlampe erwidert. Da bettelt nicht nur der Ansager im Fernsehen um Gnade, sondern das ganze Kino gleich mit, denn „Drei Jahre später“ mündet nach seinem gelungenen Intro ziemlich uninspiriert in einem völligen Wirrwarr aus Filmzitaten, diffuser Medienkritik und Splatterelementen. Hinterher ist alles tot, die Idee eingeschlossen.
Einen netten Anfang hatte auch Jan Lüthjes Film Kocher – Das letzte Kommando. Mitten auf einer urbanen Müllkippe schwenkt ein junger Priester seinen Tabernakel und verteilt den Müll der Wohlstandsgesellschaft so weihevoll an die herumlungernden Gestalten, als wäre es pure Hostie. Durch diese Endzeit- Szenerie streift auch Kocher, ein abgerissener Ex-Stasi-Agent, der sich für seine alten DDR-Orden Futschi kauft. Da hat sein ehemaliger Führungsoffizier natürlich leichtes Spiel, ihn für einen neuen Auftrag zu reaktivieren, der Kocher erst auf den Seziertisch eines Dr. Frankenstein führt und dann auf den Alex: als willenloser Replikant, der staunenden Ossis elektrische Zahnbürsten verkauft.
Lüthje muß wohl ein Tarkowski-Fan sein, so redlich bemüht er sich, in seinem Schwarzweißfilm ein wenig von der düsteren Gulag-Mystik auf die Leinwand zu bannen. „Eine nicht ganz ernste Abrechnung mit der scheinheiligen Vergangenheitsbewältigung“ hat er drehen wollen und dabei ganz vergessen, daß sich „nicht ganz ernst“ und „Abrechnung“ eigentlich ausschließen. So ist der Film weder komisch noch kritisch, sondern nur krude. Die pseudobrachiale Welt, in der blinde Bettler Bauchläden mit Schaumgummi herumtragen und fiese Oberagenten Fischkonserven mit den Fingern essen, wirkt reichlich aufgesetzt. Daß sich Kocher auch noch im Off-Kommentar augenzwinkernd als ganz harter Bursche präsentiert, ist eine recht fade Parodie auf gängige Agentenfilme.
Die 1. Berliner Independent Rolle ist vor allem ein Festival der schönen Einstiege. Der Rest aber beweist, daß sich für das Kino arithmetische Regeln nicht anwenden lassen. Denn drei lange Kurze sind noch lange kein abendfüllendes Programm. Oliver Gehrs
Heute, 20.30 Uhr, Kellerkino, Dresdner Straße 125, Kreuzberg
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