STEFAN KUZMANY über GONZO : Daheim auf Reisen
Laute Nachbarn sind kein Vergnügen. Wenn sie allzu leise sind, ist das aber auch kein gutes Zeichen
Über mir leben Irre. Sie wohnen noch nicht lange da. Zu ihrem Einzug vor einem halben Jahr haben sie eine Party veranstaltet. Durch die Wohnungsdecke konnte ich deutlich hören, welche Musik sie auflegten: das Stück „Voyage Voyage“ der Gruppe „Desireless“, das war in den mittleren Achtzigern mal ein Hit und ist auch heute noch ein ganz guter Partygag. Alle erinnern sich daran und singen den französischen Text mit und tanzen affektiert und man kann sich kurz über die schrecklichen Frisuren der Bandmitglieder von „Desireless“ austauschen, und dann ist auch wieder gut.
Bei den Irren von oben war das allerdings anders. Sie spielten „Voyage Voyage“ fünf- bis zehnmal, und zwar so laut, dass ich den Text verstehen konnte, sie freuten sich an dem Lied, sangen aus voller Kehle mit und klatschten in die Hände. Seltsame Leute, dachte ich mir. Um fünf Uhr morgens war Ruhe. Am nächsten Tag schliefen sie lange aus und sind dann offenbar mit der Organisation des Haushalts etwas in Verzug geraten. Jedenfalls schalteten sie die Waschmaschine erst um ein Uhr nachts an. Dann wieder wochenlang Stille. Nur der alte Nachbar von unten hustet nachts oder kann nicht schlafen und hat das Fernsehgerät so laut aufgedreht, dass irgendwann seine Frau kommt und ihn deswegen ausschimpft. Dann wieder die Irren von oben, wieder haben sie Gäste, aber sie tanzen nicht zu „Voyage Voyage“, diesmal scheint es irgendeine rituelle Melodie zu sein, dem Stampfen und Singen nach zu urteilen tanzt sich über meinem Kopf gerade eine achtköpfige durchgeknallte Meditationsgruppe in Trance.
Den alten Mann von unten kenne ich und auch seine Frau. Früher hat sie sich manchmal beschwert, dass ich zu laut bin, und klar, das vergisst man immer: auch ich trage Schuhe, deren Absätze auf den Bohlen klappern, auch ich mache Partys, und auch ich habe einen eigenwilligen Musikgeschmack, huste und sehe fern.
Die Irren von oben kenne ich nicht. Einmal, als ich frei hatte, aß ich unten, in der türkischen Pizzeria in unserem Haus, zu Mittag, da kamen zwei junge Männer rein und bestellten sich eine vegetarische Pizza. Ich mampfte meine Schinkenpizza und beobachtete sie genau. Das könnten sie sein, dachte ich. Das sind die Irren von oben. Der eine fragte den anderen: „Was machst ’n du am Wochenende?“ Darauf der andere: „Du, weißt du, da ist doch das ganze Wochenende Meditationsseminar.“ Das mussten sie sein. Leise summte ich „Voyage Voyage“ vor mich hin, aber keine Reaktion. Vielleicht hatte ich zu leise gesummt.
Seit der alte Mann von gegenüber ins Altenheim gezogen ist, ein alter Kämpfer, der mir gerne von der Verteidigung Berlins erzählt hat, wenn ich gerade den Müll runterbrachte, habe ich eigentlich kaum noch Kontakt zu den Nachbarn. Der Veteran hat zwischen den Russen und dem Führer immer noch einige Informationen über die anderen Mieter einfließen lassen, wer wie lange wo wohnt, wer Alkoholiker ist und so weiter, obwohl: eigentlich nur das.
Zum Glück gibt es noch die Hausmeisterin, sonst würde ich gar nichts mehr erfahren. Vor zwei Monaten traf ich sie unten im Flur. Sie stand vor den Briefkästen und betrachtete nachdenklich einen Kasten, aus dem die Post quoll. „Da stimmt etwas nicht“, sagte sie mit ihrem osteuropäischen Akzent, „ich habe den schon lange nicht mehr gesehen.“ Der Mieter der Wohnung ganz oben unter dem Dach. Ich kannte ihn nicht. Vielleicht ist er verreist, sagte ich, vielleicht ist ihm etwas passiert, sagte sie, was kann man machen? Ich wollte mir nicht vorstellen, dass der Mann allein gestorben war und jetzt in seiner Wohnung lag, von niemandem vermisst. So etwas liest man in der Zeitung. So et- was passiert nicht im eigenen Haus.
Letzte Woche haben sie ihn gefunden. Die Feuerwehr kam mit einem Leiterwagen und ist durch ein Fenster eingestiegen.
Er lag wohl schon seit letztem Mai da. Rente aufs Konto, Miete vom Konto. Muss ein angenehmer Mieter und Nachbar gewesen sein: nie Beschwerden, immer ruhig. Über mir leben Irre. Mögen sie noch lange leben.
Räumungsklagen? kolumne@taz.de Morgen: Arno Frank über GESCHÖPFE