STADT STRESST : W.s Wandlungen
Ein paar Dinge zumindest sind erledigt. Um mich zu belohnen, gehe ich ins Molinari, esse Toast, trinke Milchkaffee, lese die Tageszeitungen. Als ich wieder nach Hause gehe, sehe ich auf der anderen Straßenseite W., einen alten Bekannten. Ich freu mich, überquere die Straße, rufe „Hey“.
Er erschrickt und beginnt dann übergangslos von einem Aggroradfahrer zu erzählen, der ihn eben auf dem Gehweg in der Nähe vom Winterfeldplatz fast über den Haufen gefahren hatte. Vor allem empört ihn, dass sich der Radfahrer nicht entschuldigt hatte. Er sei dann noch hinter ihm hergerannt und weiß jetzt, in welchem Haus der wohnt. Ich sage nichts.
Als eine elegante alte Dame vorbeigeht, verwandelt sich W. Alles an ihm ist nun plötzlich liebenswürdig, galant und zuvorkommend. Er lobt ihren vornehmen Gang. „Sie haben sicher blaues Blut“, die alte Dame lächelt. Er fragt, wie es ihr gehe, und die Dame sagt „Na ja“ und „Muss ja“ – „Wir haben ja auch ganz schön was durchgemacht“, und dass es oft schwer sei, so ganz allein. Und wie’s denn W.s kranker Schwester gehe. Beide kennen sich schon ewig, die nun 93-jährige Nachbarin hatte W. aufwachsen gesehen, hatte gesehen, wie die Familie zerbrach, wie W., der inzwischen Anfang 60 ist, ins Heim kam und wie später doch was aus ihm geworden ist.
Beide sprechen eine Weile miteinander; ich stehe daneben, versuche nett zu lächeln. Zum Abschied gibt die nette alte Dame auch mir die Hand und nennt mich „junger Mann“. Und als sie wieder weg ist, verwandelt sich W. zurück und schimpft weiter über diesen Radfahrer, sagt dann auch noch was von „anzeigen“, und ich sage, das ist doch Quatsch, aber er konnte ja auch nichts für die Wut, in die er sich hineingesteigert hatte, vielleicht auch, weil ich ihn die ganze Zeit so verständnislos angeschaut hatte. DETLEF KUHLBRODT