SPIRITUELL IM ZUG : Wie vorgefunden
Es gibt Dinge, die vergleicht man nicht. Deutsche Politiker darf man zum Beispiel nicht mit Hitler, Pinochet oder Gaddafi vergleichen. Jetzt wird’s etwas kompliziert, denn eigentlich darf man Gaddafi auch nicht mit Hitler vergleichen, doch Schwamm drüber. Eine Zugtoilette mit einem spirituellem Raum gleichzusetzen würde mir normalerweise auch nicht in den Sinn kommen, doch es gibt eben Tage, da schaut man etwas genauer hin, und heute war wohl so einer. Was ich auf dieser Toilette sah, brachte mich zum Nachdenken: Hatte ich gerade jetzt eine Erleuchtung? Oder lag es einzig und allein daran, dass ich mich nicht wohlfühlte bei dem Gedanken, wieder ins Abteil zurückzukehren, und deswegen seit gefühlten zehn Minuten auf das Emailleschild starrte?
Warum noch mal wollte ich nicht ins Abteil zurück? Ach ja, ich hatte meiner Begleitung mit dem Wortspiel „You’re a wonderwoman, i always wonder if you’re a woman“ die Zornesröte ins Gesicht getrieben. Dies alles hatte mich also zu diesem Schild geführt, und jetzt überlegte ich mir, was zu tun sei. Vielleicht ein Stereoskoplicht in die Toilette bauen, das Klo an die Decke montieren oder gratis Kokainproben an die Gäste verteilen. Man könnte auch die ganze Toilette kurz und klein schlagen oder grün anmalen. Dieses Klo gab mir mehr Freiraum als alle Abteile zusammengerechnet, also beschloss ich, noch etwas stehen zu bleiben und mich der ungezügelten Selbstverwirklichung hinzugeben, die mir das Schild versprach, denn auf ihm war groß und deutlich zu lesen: „Bitte verlassen sie den Raum so, wie sie ihn vorfinden möchten!“
Diese scheinbar unbedeutende Mitteilung vereint nicht nur sämtliche spirituellen Gedanken, sie steht auch für äußerst ungewohnte Freiheiten. Dafür war und bin ich sehr dankbar und entschuldige mich sogleich bei Onkel Gaddafi.
JURI STERNBURG