SPEICHENBRUCH : Reue eines Kontrollfreaks
KALKÜL Lance Armstrong hofft, nach seiner Beichte sein Schicksal selbst bestimmen zu können. Doch warum sollte man ihm glauben?
Nicht nur im Bible Belt der USA, also im sehr gläubigen Südosten des Landes, sollte die Botschaft angekommen sein: Da sucht einer nach Vergebung. Aber kann es Vergebung für das Unvergebbare geben? Philosophen haben sich darüber den Kopf zerbrochen. Der etwas spleenige französische Denker Jacques Derrida hat einmal gesagt, Vergebungsrituale seien fester Bestandteil von symbolischer Politik. Sie treten fast schon inflationär auf: Politiker (oder auch Sportler) setzten die massenmedial inszenierte Abbitte für vergangenes Unrecht als Machtmittel ein, um sich die Deutungshoheit über öffentliche Diskurse zu sichern.
Der Fall Lance Armstrong passt perfekt in dieses von Derrida beschriebene Schema. Der Kontrollfreak, dem alles außer Kontrolle gerät, möchte wieder die Oberhand gewinnen. Er tut das mit einer nahezu perfekt choreografierten Beichte im US-Fernsehen. Seht her, hier stehe ich, reuig und schuldbewusst. Ich war fehlbar. Ich habe gelogen und betrogen. Man möge mir verzeihen.
Aber mit dem Verzeihen und Vergeben ist es nicht so einfach. Manche Taten sind schlicht to big to forgive. Die Suche nach Vergebung muss ohne Kalkül daherkommen, sie muss überdies von Angesicht zu Angesicht erfolgen, postuliert Derrida, in einer solitude à deux. Kurzum: Man muss dem Beichtenden Glauben schenken, man muss seine Abbitte für authentisch, von Herzen kommend halten. Aber gelingt das bei Lance Armstrong, dem wendigen notorischen Trickser? Momentan dürfte das den meisten äußerst schwer fallen. Sie halten Armstrongs Aussagen für reine Strategie. Für ein weiteres machtpolitisches Spiel.
Armstrong hat sich über fast zwei Jahrzehnte als Soziopath und Manipulator erwiesen. Warum sollte er ausgerechnet jetzt geläutert sein? Auf welche Weise sollte er ein anderer geworden sein? Das fragen sich viele. Zu Recht. Nein, Armstrongs Beichte ist im Grunde keine Beichte, denn er bleibt zu sehr an der Oberfläche. Das Oprah-Interview war allenfalls das Präludium zu einem größeren Bekenntnis, zu einer Wiedergutmachung, die diesen Namen wirklich verdient.
Ginge es Lance Armstrong wirklich um Vergebung, dann müsste er noch viel mehr tun, als sich lediglich zweieinhalb Stunden vor eine Fernsehkamera zu setzen. Er müsste die Radsportwelt Schritt für Schritt von seiner Aufrichtigkeit überzeugen. Aber wer mag daran ernsthaft glauben, mal abgesehen von ein paar Erleuchteten im Bible Belt?
MARKUS VÖLKER