SPATZEN SIND SCHLIMMER NOCH ALS GRIMMIGE SOLDATEN, DENN SIE VERBERGEN SICH HINTER DER MASKE SCHEINBAR HARMLOSER NIEDLICHKEIT : Die Räuber
ULI HANNEMANN
Sie stehlen. So viel steht schon mal fest. Dicke kleine Vögel räubern meine umfangreichen Sämereien. Sie säen nicht, sie ernten nicht, und Jesús Malverde, der Schutzheilige der Diebe und Drogenhändler, ernährt sie doch.
Stundenlang habe ich auf dem Balkon in akribischer Kleinarbeit Petersilien-, Schnittlauch- und Sonnenblumensamen einzeln in die auf den jeweiligen Verpackungen vorgeschrieben Tiefen von 2 Zentimetern, 0,4 Zentimetern und „oberflächlich“ gedrückt und sie dann noch einmal sorgfältig mit Erde bedeckt wie eine Mutter, die ihren Kindern des Abends liebevoll die Decke bis zum Kinn hochzieht. Ich habe ihnen eine Gutenachtgeschichte vorgelesen, in der der Schnittlauchkönig einen Mann für die Sonnenblumenprinzessin sucht.
Erst umgarnt sie der hässliche Efeu-Edelmann und versucht sie zu beklettern. Das ist natürlich nur ein angedeutetes Bild für kleine Pflanzensamen, das ihnen doch zugleich ein erster zarter Hinweis auf Freuden, aber auch Leiden der Liebe und der pflanzlichen Sexualität sein soll. Natürlich sagt in meinem Märchen die Sonnenblumenprinzessin „Nein“, denn der Efeu ist ihr zuwider. Sie möchte sich sicher sein und sich nicht verschenken. Die Variante, in der sie besoffen lallt, „na und, was kostet die Welt, besser als gar kein Stängel“, hebe ich mir für die Zeit auf, wenn sie erwachsen ist und sich für die großen amerikanischen Erzähler zu interessieren beginnt. In meiner Geschichte kommt stattdessen der wunderschöne Petersilienprinz in seinem Topf herbeigeritten, singt ihr – lalala – Lieder vor und hält um ihre Hand an.
Doch bevor sie alle überhaupt nur aus der Erde gucken können, werden sie leider schon von bösen dicken kleinen Vögeln geklaut. Das ist so Scheiße! Jetzt weiß ich endlich, wie man sich fühlt als armer Bauer, der seit Generationen im Schweiße seines Angesichts die Felder bestellt und dann fällt plötzlich ein Millionenheer von Mordbuben ein, faselt irgendwas von „Hunger“, „Nestbau“ oder „Lebensraum im Osten“ und brennt die Felder einfach nieder.
Die Spatzen sind im Grunde schlimmer noch als grimmige Soldaten, denn sie verbergen sich hinter der Maske scheinbar harmloser Niedlichkeit.
Darin ähneln sie auch dem jüngeren Attentäter von Boston. Zur Kriminalität gesellt sich die Heimtücke, denn käme mit schauerlichem Gekrächze ein hässlicher nackthalsiger Riesengeier angeflogen, um meine Blumen zu rauben, wüsste ich sogleich, woran ich wäre, und könnte mich entsprechend wappnen. Ich säße da mit einem Spaten oder Schießgewehr. Machte ich davon Gebrauch, hätte jeder Verständnis. Ich bräuchte mich nicht zu rechtfertigen auf ein nachbarliches „He Sie, was ballern Sie da auf kleine Piepmatze?“ hin.
Doch so muss ich sie mehr oder weniger tatenlos gewähren lassen. Es ist dermaßen erniedrigend. Ich sitze da in meiner Ecke, ein in ihren Augen sicher riesenhafter Mensch, wedle wie ein Hubschrauber mit beiden Armen und rufe in einem fort: „Los, weg da! Ihr Arschlöcher!“ Und sie turnen einfach weiter seelenruhig auf meinen Saaten rum und treiben kleine Petersilienprinzen ab, als ob ich gar nicht da wäre. Ich tauge offenbar noch nicht einmal als Vogelscheuche. Erst als ich mein Hemd ausziehe, hauen sie endlich ab.