SHEILA MYSOREKARPOLITIK VON UNTEN : Kommunismus auf Crack
Im chinesischen Shenzhen gibt es sogar unter der Erde endlose Gänge mit Geschäften. Die Stadt kauft sich in die Zukunft. Dagegen ist Europa so was von Neunziger. Aber die waren doch schön, oder?
Europa ist ein Freilichtmuseum. Das war mir nicht klar, bis ich nach China gefahren bin. Genauer gesagt, nach Shenzhen, einer 12-Millionen-Einwohner-Stadt im Süden Chinas, gegenüber von Hongkong. Shenzhen ist wahrscheinlich die hässlichste Stadt des Landes: Hochhäuser, Stadtautobahnen und Betonwohnblocks, und dann das Ganze hoch zehn. Der eigentliche Zweck dieser Stadt ist die Betonwüste von Fabriken. Hier montiert etwa die Firma Foxconn die iPhones, und ja, tatsächlich sind auf den Dächern dieser Fabrik Gitter angebracht, damit Arbeiter nicht Selbstmord begehen.
Aber das Lebensgefühl in Shenzhen ist großartig. Mein erster Eindruck von dieser Stadt: This is a happening place, mit einer jungen, rohen Energie, sehr positiv und nach vorn gerichtet. Ein Boomtown-Feeling wie in Dubai in den 1990ern – jeder kann sein Glück machen, eine irgendwie unschuldige Goldgräber-Mentalität.
Die Haupteinkaufsstraße der Stadt ist unglaublich, wie der Ku’damm auf Steroiden und Crack, ein völlig durchgeknallter Einkaufswahn, alles hat ein irrsinniges Tempo. Selbst die Rolltreppen sind auf Speed, gefühlt doppelt so schnell wie die deutschen. Ich kam mir vor wie eine Oma vom Lande und sehnte mich nach den langsam ruckelnden Rolltreppen von Karstadt. Die Shopping Malls stehen nicht nur am Straßenrand, selbst unterirdisch ziehen sich mehrere Etagen mit endlosen Gängen von Geschäften durch die Stadt. Shenzhen ist eine Überdosis von Konsumwelt, und ich dachte, wenn das die Zukunft ist – ohne mich. Ich lebe lieber in dem Freilichtmuseum namens Europa.
Vor allem Deutschland, so schön ruhig hier. Langsam. Und gemütlich. Man hält an alten Traditionen fest, die schon längst obsolet sind, Festnetztelefone etwa, oder fleischbasierte Ernährung oder dass es eine Leitkultur gibt. Deutschland heute, das ist wie das Osmanische Reich Anfang des 20. Jahrhunderts, das sich verzweifelt an vergangener Größe festhielt. Hat noch niemand den Schuss gehört? China gehört die Zukunft, da sind sich alle einig. Nur: Wird die Zukunft so aussehen wie in dem hemmungslosen Konsumtempel namens Shenzhen? Ist die Rückwärtsgewandtheit Europas ein letzter Versuch, sich an Werten zu orientieren, die nichts mit Geld zu tun haben?
Vielleicht wird der Turbokapitalismus, der offensichtlich als Kommunismus auf Crack am besten funktioniert, irgendwann die ganze Welt beherrschen. Aber das muss nicht sein, finde ich. Nichts gegen gedopte Rolltreppen und Ufo-Landeplätze, aber Geld allein macht eben nicht glücklich. Das mag sich zwar altmodisch anhören, aber ich bin halt Old School. Europäisch eben.
■ Die Autorin ist Journalistin und in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Foto: Firat Bagdu