SCHÖNER AUFSCHWUNG : Das System
Es ist ein lauer Sommerabend in der Kastanienallee. Ich sitze auf einer Parkbank. Im Kiosk nebenan habe ich mir ein kühles Bier geholt. Ich zünde mir eine Zigarette an, genieße mein Alleinsein. Nach ein paar Minuten setzt sich eine ältere Dame neben mich auf die Bank. Sie hat sich auch ein Bier gekauft. Sie prostet mir zu und fängt an zu reden:
„Wissen Sie, auf die jungen Leute ist kein Verlass mehr. Seit zehn Jahren organisiere ich die Verteilung von kostenlosen Lebensmitteln, drüben im Hausprojekt. Wir kriegen die Kisten von den Supermärkten. Die Kisten müssen je nach Inhalt aufgestapelt werden. Da die Kartoffeln, hier die Konservendosen, das Brot, die Tomaten. Ich habe da ein System entwickelt. Aber die jungen Leute verstehen mein System nicht. Die stapeln alles durcheinander. Und ich bin ja schon 71 Jahre alt. Ich hab’s am Kreuz. Ich bin völlig am Ende mit den Nerven. Die verstehen mein System einfach nicht.“
Nach einer kurzen Atempause setzt die alte Dame ihren Monolog fort: „Es kommen ja immer mehr Menschen zu uns. Aufschwung in Deutschland – das ist doch zum Totlachen. Ich sage Ihnen, zu uns kommen Leute, von denen Sie niemals denken würden, dass die ihr Essen nicht zahlen können. Aber ohne mich funktioniert hier nichts mehr. Die verstehen einfach nicht, dass man bei so einer Verteilung ein System braucht. Ohne System herrscht das Chaos. Aber ich bin doch schon so alt und ich hab’s doch am Kreuz.“
Ich zünde mir noch eine Zigarette an, sie spricht unbeirrt weiter: „Sehen Sie sich die Flaschensammler an. Die werden ja auch immer mehr. Letztens haben sich zwei geschlagen, weil sie im gleichen Revier gesammelt haben. Das ist doch grausam. Jedenfalls kommen die auch zu uns wegen der Lebensmittel. Aber bei uns geht ja jetzt alles drunter und drüber. Niemand versteht mein System. Und ich hab’s am Kreuz.“ ALEM GRABOVAC