SCHLESWIG-HOLSTEIN HAT DIE CHANCE, BÜRGERNÄHER ZU WERDEN : Glücksfall Tolerierung
Nun wird also der kleine SSW in Schleswig-Holstein mitregieren – in diesen Tagen sprechen SPD und Grüne mit den Minderheitenvertretern über die Details einer Tolerierung. Darf der das, der Südschleswigsche Wählerverband? Darf die Minderheit die Mehrheit kontrollieren?
Nein, darf sie nicht – und will sie nicht, jedenfalls, wenn Anke Spoorendonk und ihr Mitstreiter Lars Harms ernst meinen, was sie vor der Wahl sagten. Tatsächlich kann die Minderheitsregierung zu mehr Demokratie führen. Denn der SSW will keine Pöstchen, sondern ein anderes Miteinander im Parlament.
Die Tolerierung bedeutet keinen Zwang für den SSW, die Hände zu heben, nur weil Heide Simonis es will. Es kann zu neuen Konstellationen kommen: schwarz-rote-Mehrheit in der einen Frage, gelb-rot-blaue in der nächsten. Die Palette ist voller Farbkombinationen, und das Bild, das sich daraus ergeben kann, mag bunter und frischer sein, als die CDU es heute sehen will.
Wechselnde Mehrheiten: Das bedeutet, dass jede Partei einen Teil ihrer Ziele durchsetzt, durchaus zum Wohl für das Land. Damit könnte das Ergebnis, über das alle Parteien so unglücklich sind, sich als Glücksfall erweisen und auch den Willen der Bürger besser widerspiegeln als eine traditionelle Koalition. Denn die Schleswig-Holsteiner haben keinem Lager einen wirklich klaren Auftrag erteilt. Zwar hat die CDU die meisten Stimmen erhalten, aber keinen echten Erdrutschsieg erzielt. Im Norden wie im Bund: Die Wähler trauen es keiner Partei allein zu, die großen Probleme wie Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsflaute zu lösen. Statt auf die Bürger zu schimpfen, die am Wahltag zu Hause bleiben, sollten die Politiker lieber nach neuen Wegen suchen – und einer mag in Kiel beginnen.
Zwei Dinge könnten dort allerdings schief gehen: Die anderen Parteien lassen sich nicht auf die Spielregeln ein, die der SSW ihnen vorgibt, und blockieren die Arbeit im Parlament. Oder der SSW tappt in die Falle und lässt sich mit goldenen Wasserhähnen für dänische Schulen die Haltung abkaufen. In beiden Fällen wäre eine Chance auf ein anderes demokratisches Zusammenspiel vertan.
ESTHER GEISSLINGER