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Archiv-Artikel

SCHILY WILL VERSAMMLUNGSRECHT DURCH PROGNOSEN BEGRENZEN Willkür für das „Ansehen Deutschlands“

Scheinbar befreit uns der Vorschlag des Innenministers Schily, das Versammlungsrecht bei Aufmärschen von Neonazis einzuschränken, aus der misslichen Lage, die aus Unsicherheiten in der Rechtsprechung über den Geltungsbereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit entstanden ist. Angesichts divergierender Urteile, vor allem aber angesichts der Pläne der CDU/CSU, die Demonstrationsfreiheit durch Änderung der Verfassung zu beschneiden, wäre eine Klarstellung willkommen. Doch der Entwurf des Bundesinnenministers, soweit er bekannt ist, verfehlt dieses Ziel.

Schily will Versammlungen und Demonstrationen durch eine Änderung des Versammlungsgesetzes dann verbieten, „wenn nach erkennbaren Umständen zu erwarten ist, dass in der Versammlung nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft verherrlicht oder verharmlost wird“. „Verherrlichung“ und „Verharmlosung“ von NS-Verbrechen sind schon jetzt nach geltendem Recht strafbar. Wenn allerdings eine Prognose solcher künftiger Straftaten ausreicht, Grundrechte einzuschränken, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet, zumal die „Umstände“ von einer Behörde erkannt werden und die richterliche Überprüfung nur noch im Nachhinein möglich sein soll.

Bedenklicher aber ist das von Schily angepeilte Verbot von Neonazi-Aufmärschen an Orten, „die an die Opfer einer organisierten menschenunwürdigen Behandlung erinnern und die als nationales Symbol für diese Behandlung anzusehen sind“. Hier liegt eine Auffassung des „Symbolschutzes“ vor, die abstrakt die symbolische Bedeutung einer Gedenkstätte oder eines Gebäudes postuliert. Die Sorge um das „Ansehen Deutschlands“ bei der Verletzung dieser Symbole ist dem Entwurf auf die Stirn geschrieben. Als ob nicht einer demokratischen Gegendemonstration angesichts eines Nazi-Aufmarsches vor solchen Erinnerungsorten eine viel größere öffentliche Wirksamkeit zukäme! Denn Orte, die an die Leiden der Opfer des NS-Regimes erinnern, können ihre symbolische Kraft nur entfalten, wenn sie demokratisches Fühlen und Handeln bestimmen. CHRISTIAN SEMLER