SACHEN VERSTEHEN IN BRASILIEN : Höflichkeit und Zweckpessimismus
JOHANNES KOPP
Schon allein aus Höflichkeit hatte ich bislang immer Brasilien mit ins Spiel gebracht, wenn es um die Titelfavoriten dieser Weltmeisterschaft ging. Aber mittlerweile spare ich mir das. Die Brasilianer winken hier meist eh alle gleich ab. Die Seleção mit dem Weltmeisterpokal in den Händen – das scheint ihnen eine völlig abwegige Vorstellung zu sein. Es ist, als wollten sie mir mit ihrer Handbewegung sagen: Man kann es auch übertreiben mit der Nettigkeit. „Holanda e Alemanha“ sind ihre meist genannten Kandidaten. Und über Argentinien, Kolumbien, Frankreich und Belgien hört man sie ebenfalls nur Gutes reden. Bliebe also nur noch Costa Rica. Das scheint in den Augen der Brasilianer derzeit ungefähr die Preisklasse ihrer Seleção zu sein.
Und das eigentlich auch nur wegen Neymar. Ohne den wären wir wahrscheinlich eh schon ausgeschieden, heißt es. Die anderen Nationalspieler könne man sowieso vergessen. Irgendwie habe ich mir die Anhänger des fünfmaligen Weltmeisters anders vorgestellt. Gut, bei den Begegnungen der Seleção ist hier stets Feiertag. Niemand muss zur Arbeit und so strömen sie in Massen vor die Bildschirme. So weit werden die Klischeevorstellungen über den Stellenwert der Seleção schon bestätigt. Wenn sie aber wieder so abfällig über ihr Nationalteam sprechen, wirkt all das, wie eine alte Gewohnheit, die man eben nicht so schnell ablegen kann.
Vielleicht ist es ja auch Zweckpessimismus, überlege ich. Die eigene Mannschaft schlechtreden, um dann von ihr überrascht zu werden. Aber bislang hatte ich gedacht, so etwas gäbe es nur in Deutschland. Die Vermutung jedoch, dass alles etwas komplizierter ist, liegt nahe. Das bekommt man hier schließlich des Öfteren zu hören, wenn man in Brasilien auf der Suche nach Erklärungen ist.
Zuweilen genügt es, mit einer Person zu reden, um einen Sinn für die Widersprüchlichkeiten Brasiliens zu bekommen. Mein Vermieter Enzo in Porto Alegre zum Beispiel hat mir kürzlich sehr anschaulich dargelegt, warum er gegen diese Weltmeisterschaft ist. Neben der staatlichen Krankenversicherung, erzählte er, müsse er auch noch Geld zahlen, um sich über einen privaten Anbieter abzusichern. Ansonsten könne er im Falle einer ernsthaften Krankheit seine Sterbeurkunde gleich selbst unterzeichnen. Die Unmengen an Ausgaben für die WM hätte der Staat in das Gesundheitssystem Brasiliens investieren müssen.
Ein wenig später zeigt er mir dann Fotos, die er mit seinem Handy in der Stadt gemacht hat. Holländische Fans, die sich samt ihrer Blaskapelle mit einer brasilianischen Musikergruppe verbrüdert haben. Und auch die deutschen Anhänger hat er abgelichtet. Sie hätten für richtig gute Stimmung gesorgt. Ich selbst habe noch ihr „Hurra, hurra, die Deutschen, die sind da“-Gebrülle im Ohr.
Das war jetzt das letzte Spiel in Porto Alegre, stelle ich fest. „Ja, leider“, antwortet Enzo traurig. „Schade, dass nicht jeden Tag WM sein kann!“