: Rußlands Wirtschaft vor dem Durchstarten
■ Jelzin und Silajew begründen die Notwendigkeit einer radikalen Wirtschaftsreform für die russische Föderation
Moskau(dpa/adn/taz) - „Die Wirtschaft muß von Effektivitätsdenken statt von Ideologie bestimmt werden“ das war der Kernsatz aus Präsident Boris Jelzins Rede vor dem Obersten Sowjet der russischen Föderation am Montag. Jelzin trug ein weiteres Mal ein tiefschwarzes Bild der Lage vor: „In Rußland gibt es praktisch keine Region mehr ohne Probleme. Wir wissen, daß sich die Schwierigkeiten, die die Menschen direkt betreffen, verschlimmern. Wir wissen auch, daß Armut und selbst Elend weit verbreitet sind, und daß der Lebensstandard weiter fällt.“
Jelzin forderte eine „starke, aber gesetzestreue Regierung“. Jeder Rückfall in die Zeiten der Rechtlosigkeit und der Willkür müsse aber verhindert werden. Die Situation verlange nicht nur irgendwelche außerordentlichen Maßnahmen, sondern den Verzicht auf das totalitäre System und die sich aus ihm ergebenden falschen Orientierungen. Die Sowjetunion mache gegenwärtig die kritischste Periode ihrer Geschichte durch. Das Volk sei von der Perestroika desillusioniert. „Die Lage im Land ist ernst“, so Jelzin in Anlehnung an den bekannten rheinischen Staatsmann zu den Abgeordneten, „aber wir dürfen nicht in Panik und Ratlosigkeit verfallen“. Das Wichtigste und Wertvollste sei der Vertrauenskredit, den die russische Führung „bei unserem müden und zermürbten Volk genießt“.
Nach Jelzin begründete der Ministerpräsident der Föderation, Iwan Silajew, die Notwendigkeit einer umfassenden und schnell durchgreifenden Wirtschaftsreform. Die gegenwärtige Krise habe die Lebensunfähigkeit der bestehenden Strukturen endgültig vor Augen geführt. Die bisherigen Maßnahmen der Zentralregierung seien zumeist nicht richtig durchdacht und wirtschaftlich unbegründet. Das habe die ohnehin schwierige Lage in der Gesellschaft weiter verschärft. Innerhalb von zwei Jahren sollten die Grundlagen für die Marktwirtschaft geschaffen werden. Ausführlich erläuterte Silajew die Grundsätze der Wirtschaftsreform, die auf ein Programm der Expertengruppe unter Leitung Stanislaw Schatalins basiert. Ein Hauptprinzip der Reform ist die Souveränität der Republiken und ihre gleichberechtigte Zusammenarbeit. Im Gegensatz zur bisherigen Praxis, die auch noch das Übergangsprojekt des sowjetischen Ministerpräsidenten Ryschkow bestimmt, sieht sie keine zentralistischen Mechanismen vor, sondern baut die Leitung der Wirtschaft „von unten nach oben“ auf. Danach werden die Republiken, die autonomen Gebilde und die örtlichen Verwaltungen selbständig ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik gestalten und entscheiden, welche Kompetenzen sie an die Zentralregierung abtreten.
Zu den wichtigsten Grundlagen des Reformprogramms gehört die Aufteilung und Privatisierung staatlichen Eigentums. Den Menschen, so Silajew, werde damit die Möglichkeit geboten, selbständig am Wirtschaftsprozeß teilzuhaben, Kleinbetriebe, wie die des Handels und Dienstleistungsbereichs, sollten in individuelles Eigentum übergehen. Große und mittlere Betriebe würden in Aktiengesellschaften umgewandelt werden. Als Termin nannte Silajew den 1. Oktober.
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