■ Rußlands Präsident Jelzin sollte sich besser zur Ruhe setzen: Illusion und Wirklichkeit
Schwer ist es Präsident Jelzin nicht gefallen, sich zu einer zweiten Präsidentschaftsrunde durchzuringen. Jedenfalls war es nicht so qualvoll, wie er es die Wähler glauben machen möchte. Um sein Altenteil zu genießen und sich aus der Distanz anzuschauen, was er trotz aller Mißerfolge geleistet hat, täte er besser daran, sich an die Rolle des Elder statesman zu gewöhnen. Ehemalige Weggefährten des demokratischen Lagers, die sich politisch von ihm lossagten, ohne indes den letzten Rest Dankbarkeit und Sympathie über Bord zu werfen, gaben ihm den ernsten Rat. Und seine Frau Naina, die in den Monaten, in denen ihr Gatte krank war, ein bemerkenswertes Format an Staatsfraulichkeit offenbarte, sah die Dinge ähnlich.
Aber Jelzin geriert sich als einziger Garant für Demokratie und Reformen. Wie so häufig in Rußland verschwimmen die Grenzen zwischen Illusion und Wirklichkeit. Man empfiehlt sich nicht durch Nachdenklichkeit, sondern durch den Ansturm und durch Schnelligkeit. Die Versenkung in ein Problem zählt nicht zu den Tugenden. Emotionen beherrschen den Verstand. Improvisation und aufwallende Gefühle ersetzen die Analyse. Man mag die Wirklichkeit nicht, ja, möchte ihr sogar die Existenz streitig machen.
Warum muß das gesagt werden? Jelzins Kandidatur reflektiert all jene Merkmale. Eine Chance, die Wahlen zu gewinnen, hätte er nur, wenn im zweiten Wahlgang der Ultrarechte Schirinowski gegen ihn anträte. Dann wären die Wähler gezwungen, sich für das kleinere Übel zu entscheiden. Oder nicht einmal das. Sie boykottieren einfach den zweiten Urnengang, wodurch die Wahlen ungültig würden. Die Perspektive eines kommunistischen Wahlsieges beunruhigt in der Tat. Doch jene Leute aus Jelzins Umgebung, die ihn mit offenen Augen in die aussichtslose Schlacht schicken, unterscheiden sich nicht von den KP-Funktionären der zweiten Reihe, die auf ihre Stunde lauern. In Habitus, Sozialisation und der Ablehnung demokratischer Entscheidungsfindung, in der Freude an Gewalt und Selbstherrlichkeit sind sie identisch. Schließlich kommen sie aus dem gleichen Stall.
Jelzins Kandidatur spiegelt die Angst vor seinesgleichen wider, die seine Entourage wohl bewußt schürt. Es gibt viele offene Rechnungen. Einiges ist in Jelzins Amtszeit passiert, wofür ihn seine Gegner vor den Kadi zerren, wenn nicht gar nach dem Leben trachten möchten. Der Präsident fürchtet, einmal an der Macht, würden ihm die Widersacher keine Ruhe gönnen. Rache kennt in Rußland kein Pardon. Die Wähler auch nicht. Klaus-Helge Donath, Moskau
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