Ruhr Triennale: Jeder Traum eine Baustelle
Ein Besuch bei Johan Simons und dem Theater NTGent, die Tankred Dorsts "Merlin oder Das wüste Land" - die Legende von König Artus - proben.
Wie ein Häufchen Elend hockt Parzival im grünen Overall auf der Erde und klammert sich an eine große Plastiktasche. Schlotternd vor Angst führt er einen Fantasiedialog mit seiner Mutter, die längst tot ist, und wiegt dabei autistisch seinen Oberkörper. Der Zauberer Merlin sitzt nicht weit entfernt und beobachtet mit wachsendem Ekel das Schauspiel. Dann baut er eine Rigipswand vor dem Jungritter auf und versucht ihn mit einer Filzdecke zu ersticken. Aber selbst ein Bombardement mit Arbeitshandschuhen und einem Kelch bringt ihn nicht zum Schweigen - Parzival ist nämlich ein Produkt von Merlins Fantasie, und Wahngebilde sind bekanntlich schwer in den Griff zu kriegen.
Das Theater NTGent probt unter der Leitung von Regisseur Johan Simons "Merlin oder Das wüste Land" von Tankred Dorst, eine Produktion, die am 27. September bei der Ruhrtriennale Premiere haben wird. Doch noch ist man im eigenen Probenzentrum Minnemers am Rande der Genter Hauptstadt. Im großen Probensaal deutet erst einmal nichts auf die bevorstehende Premiere. Im Gegenteil, es sieht aus wie auf einer Baustelle. Zementsäcke sind zu einem kleinen Turm aufgeschichtet, Schaufeln stehen davor, Rigipsplatten, Schutzfolien, dazwischen Maurerkellen, die wie Messer in einem Sandsack stecken, ein paar Hocker und - einziger Ausweis der Kunst - Keyboards, zwei Flügel und eine Hammondorgel.
Ist das noch ein Probenstadium oder schon das Bühnenbild? Kann man hier das Mythen- und Legendenpanoptikum um den Zauberer Merlin, König Artus und seine Tafelrunde sowie Lancelot, Ginevra und Parzival spielen? Dorsts Riesenspektakel aus 97 Szenen, das immerhin 285 Buchseiten umfasst, hatte 1979 bei seiner Uraufführung ein Scheitern der Utopie besungen, die mit viel zeittypischem Kolorit ausgestattet war, mit Clownsästhetik, Alltagssprache und Hinweisen auf die Friedensbewegung. All das haben Johan Simons und sein Dramaturg Koen Haagdorens gestrichen. Geblieben ist als zentrales Thema das Streben nach einer Utopie und ihr Scheitern. Und da Simons die Welt der Ritter, Jungfrauenwelt für unglaubwürdig hält, hat er das Geschehen verlegt: "Für mich spielt die ganze Geschichte im Atelier eines Künstlers."
So könnte der Schauspieler Wim Opbrouk in der Rolle des Merlin mit seinem farbverschmierten Kittel als Maler, aber auch als Bauarbeiter durchgehen. Auf jeden Fall ist er eine Figur, die handfest mit Maurerkelle an ihrer Utopie werkelt, Ideen verwirft und zerstört, wieder neu aufbaut. Lange probiert Simons an einer Szene, in der der Künstler König Artus zu Ritter Lancelot (beide gespielt von Louis van Beek) umbaut. Erst bindet Merlin ihm die lange Schleppe aus Spritzschutzmaterial hoch, dann legt er zwei Zementsäcke als Epauletten auf seine Schultern und führt ihn schließlich mit Betty Schuurman als Ginevra zusammen, deren Plastikfolienrobe mit Klammern eines Überbrückungskabels in Form gehalten wird. Der Ehebruch als Gedankenspiel. Doch Johan Simons lässt Merlin das ganze Bild schließlich zerschlagen.
Das klingt nach einer Zurücknahme vom Politischen ins Private und Künstlerische, doch Simons ist kein Freund dieses Dorstschen 70er-Jahre-Pessimismus. Auch wenn Zukunftsentwürfe gerade keine Konjunktur hätten, solle man doch nicht die Utopie gleich mit dem Bade auszuschütten, meint der Regisseur. Vielleicht liegen die Gründe für das Scheitern ja an den Bedingungen der Zeit, nicht an der Utopie selbst. Dann nennt Simons noch einen ganz schlichten Grund: Er habe zwei kleine Kinder, und die könne er doch nicht ohne ein positives Bild der Zukunft erziehen.
In der Probe scheint dieses utopische Moment am reinsten in der Musik auf. Johan Simons hat den Marthaler-Sänger und -Darsteller Christoph Homberger (der auch den Parzival spielt) und den Pianisten Jan Czajkowski für die musikalische Einrichtung engagiert. Die beiden haben sich vor allem Wagners Oper "Parsifal" zur Brust genommen und sie für Flügel, Haus- und Hammondorgel eingerichtet. Das klingt nach billiger Ironie, ist aber von verblüffend leichtfüßiger Komik.
In der anfangs beschrieben Szene ist es nicht Merlin, der Parzival zum Schweigen bringt, sondern die Musik in Gestalt der Sängerin Lenka Bradzilikova, die zu voller Hammondorgelbreitseite die letzten Takte der Kundry aus dem 2. Akt der Oper singt. Dann geht es attacca in Wagners Verwandlungsmusik inklusive Textzeile "Ich schreite kaum, doch wähn ich mich schon weit", die vom gesamten Ensemble pianissimo in jazzigen Offbeats geträllert wird. Vielleicht liegt hierin auch die Verbindung zu einem Satz von Johan Simons, der offenbart, wie viel von ihm selbst in dieser Merlin-Figur drinsteckt: "Bis zum Ende des Lebens sich das Leben wie einen Traum vorzustellen, das ist mir das Liebste." Auch wenn der Traum oft wie eine Baustelle aussieht.
Zu sehen ist die Produktion am 27. (P.), 29., 30. 9. sowie 2., 4., 5. 10. in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!