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Archiv-Artikel

crime scene Rilke in Glasgow

Offenbar wirkt das Etikett „Krimi“ immer noch so abschreckend, dass man zuweilen lieber darauf verzichtet. Der Antje Kunstmann Verlag hat dem Debütroman seiner schottischen Autorin Louise Welsh darum einen Klappentext verpasst, in dem erst einmal nur von einem „elegischen, eleganten und atmosphärischen Buch“ die Rede ist. Wenn an versteckter Stelle doch das böse Wort fällt, dann nur mit Einschränkung. „Dunkelkammer“, erfährt man, sei ein „Thriller, dessen Faszination auf seiner literarischen Qualität gründet“. Prädikat: besonders wertvoll!

Diese sonderbare Vorstellung, dass ein Krimi normalerweise keine „literarischen Qualitäten“ hat, findet man nicht nur in Deutschland. Als Louise Welsh, 39 Jahre alt und Schottin, vor kurzem hierzulande auf einer Lesereise war, erzählte sie, dass es in dieser Hinsicht auch in Großbritannien „a bit of snobbery“ gebe. Ihr sei es egal, teilte sie dann offenherzig mit, da sie sich unter dem Label „Thriller“ mehr Publikum verspreche: Crime sells. Man fragt sich also, ob sich ihr deutscher Verlag mit seiner dezenten Marketingstrategie einen Gefallen tut. Wie dem auch sei, Louise Welshs „Dunkelkammer“ gehört in diese Kolumne.

Der Erzähler heißt – tatsächlich! – Rilke, ist Mitte vierzig und schwul. Nachts schleicht er auf der Suche nach anonymem Sex durch den Stadtpark von Glasgow, tagsüber arbeitet er ohne Ambitionen im Antiquitätenhandel. „Erwarte nie etwas“, das ist sein Motto. Als er in eine Vorstadtvilla gerufen wird, um einen Nachlass aufzulösen, macht der bekennende Zyniker Rilke allerdings einen bemerkenswerten Fund. Zunächst stößt er auf eine wertvolle Sammlung von Erotika – und dann auf einen Umschlag mit, sagen wir mal: ungewöhnlichen pornografischen Fotografien. Eine junge Frau posiert als Leiche. Oder ist sie wirklich tot? Rilke stellt Nachforschungen an und muss erfahren, dass in Glasgow nicht nur alte Bücher und hübsche Jungs, sondern auch Menschenleben ihren Preis haben.

„Snuff“, also die pornografische Abbildung von Tötungsszenen, ist natürlich ein beliebter Mythos der Popkultur. Filme wie „8 mm“ bauen darauf auf, und das 270-Minuten-Videoband, das der „Kannibale“ Achim M. von der fachgerechten Zerlegung seines Opfers aufgenommen hat, dürfte die im Internet leidenschaftlich geführte Diskussion über die Existenz vereinzelter „echter Bilder“ unter den unzähligen Fälschungen ordentlich angeheizt haben. Louise Welsh verfolgt diese düstere Traditionslinie in der „Dunkelkammer“ zurück bis ins 18. Jahrhundert und lässt Rilke in der gut sortierten Bibliothek der Villa immer mehr grausige Belege für die Allianz von Anatomie und Leidenschaft finden. Der Tod ist eine Frau: „Gestochen, punktiert, geprägt, gestanzt, gedruckt … Kreuz und quer auf jeder Seite, die Gravur des Grabes. Flüsternd in Schwarzweiß, kreischend in Technicolor.“

Das Beste an diesem Buch sind allerdings nicht die kulturgeschichtlichen Kommentare zu einem makabren Phänomen, sondern ist die Umgebung, in der Rilke sich bewegt. Louise Welsh, die nach ihrem Studium selbst ein Antiquariat in Glasgow geführt hat, beschreibt detailliert die halbseidene Welt der Auktionshäuser und die windigen Händler, die sich nach einem erfolgreichen Geschäftstag abends im Pub noch gegenseitig ihre Armbanduhren und getragenen Jacketts abluchsen: „Wir waren Männer, die vom Tauschhandel lebten …“ Das ist genau die Welt der Säufer, Betrüger und Verlierer, die Chandler und Hammett vor über 50 Jahren für ihre hard-boiled fiction entwarfen.

Um so etwas heute so gut wie Louise Welsh hinzubekommen, benötigt man wohl tatsächlich „literarische Qualitäten“. Nur dass man eben ohnehin kein Buch gerne liest, dem solche Qualitäten abgehen. Egal ob es sich dabei nun um einen Krimi oder sonst irgendeinen Roman handelt. KOLJA MENSING

Louise Welsh: „Dunkelkammer“. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Antje Kunstmann, München 2004, 301 Seiten, 19,90 Euro