■ Restauration der alten Gewaltrechtsprechung?: Von Sitz- und Denkblockaden
Wer anderen im Wege sitzt, ist nicht gewalttätig. Auch dann nicht, wenn jene anderen im Polizeipulk auftreten und Atommüll oder andere Gefahrengüter im Troß haben. Bürgern und Bürgerinnen, die juristisch nicht vorbelastet sind, ist das gar nicht so schwer zu erklären. Auch das Bundesverfassungsgericht hatte sich zu Jahresbeginn im dritten Anlauf darauf besonnen, einer anderslautenden strafrichterlichen Judikatur den Rechtsstaat entgegenzuhalten: Wer so lange am Gewaltbegriff des Nötigungstatbestandes heruminterpretiert, bis dieser nur noch der verschraubten Phrase nach als „körperliche Kraftentfaltung“ bezeichnet werden kann, verletzt den „Bestimmtheitsgrundsatz“ (Art. 103 Abs. 2 GG).
Es kommt nicht alle Tage vor, daß in Karlsruhe markante liberale Meilensteine gesetzt werden. Peter Hintze, CDU-Generalsekretär, ließ schon vor Wochen erkennen, daß er ein schlechter Verlierer ist: In grotesker Verkehrung der Tatsachen schwadronierte er von höchstrichterlich verschuldeter „Rechtsunsicherheit“, die der Gesetzgeber möglichst umgehend korrigieren solle. Dieser größte anzunehmende Unfug fiel nicht weiter auf: Von den Unionschristen erwartet niemand einen geschärften Sinn für die Bürgerrechte – leider nicht ohne Grund.
Daß nun allerdings der rechtspolitische Sprecher der FDP, Jörg van Essen, die Gunst der Stunde nutzt und mit Hintze und Co. die Castor-Blockaden als „Gewalt“ denunziert sowie mit einer parlamentarischen Restauration der alten Nötigungsrechtsprechung droht, ist sehr befremdlich. Oder will der Mann das Vorurteil bestätigen, daß ein politisierender Ex- Staatsanwalt eben nichts anderes gelernt hat als anzuklagen? Den konfusen Einlassungen, die van Essen gestern im Morgenmagazin des Kölner DeutschlandRadios zu Gehör brachte, war jedenfalls kein klarer Gedanke zu entnehmen. Oder was soll man von einem populistischen Schandmaul halten, das, gefragt nach den Sitzblockaden, von „der“ Gewalt in aller Welt, in Oklahoma, Japan und im Wendland schwafelt?
Dabei liegt eine sachliche Frage nahe: Kann ein ausgeleierter Gewaltbegriff dadurch verfassungskonform werden, daß eine parlamentarische Mehrheit strafrichterliche Vagheiten in Gesetzesform gießt? Überlegungen wie diese scheinen freilich den derzeitigen Horizont „liberaler“ Rechtspolitik zu übersteigen. Horst Meier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen