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Archiv-Artikel

Respekt vor der rotäugigen Göttin

Wenn Tibet das Dach der Welt ist, so ist Spiti eine geheime Nische auf diesem Dach. Die spärlich besiedelten Hochtäler der ehemaligen Königreiche Lahoul und Spiti gehören zu den ältesten tibetischen Kultstätten. Eine Fahrt über unwegsame Pässe

VON FRANK SCHLICHTMANN

Der Fahrer des indischen Geländewagens ist ein junger Kerl und fröhlich. Er hat mich in Delhi abgeholt und mit mir in einer zehnstündigen Fahrt das Vorgebirge des Himalaja überquert. Jetzt sind wir im tiefen Schoß des Bundesstaates Himachal Pradesh angekommen, weiter nördlich wird sich das Kullu-Tal verengen und uns dann endgültig den Weg versperren. Unser Ziel ist das schwer zugängliche Gebiet jenseits der Sperrung: die spärlich besiedelten ariden Hochtäler der ehemaligen Königreiche Lahoul und Spiti.

Die indische Regierung hat die beiden ehemaligen tibeto-buddhistischen Königreiche Lahoul und Spiti zu einem Distrikt zusammengefasst und dem Bundesstaat Himachal Pradesh untergeordnet. Keylong ist die Distrikthauptstadt, ein kleiner Ort mit 1.780 Einwohnern, der auf einem Bergrücken über dem Bhaga-Fluss klebt wie ein Menschennest. Hier hört man sich um nach neuesten Nachrichten. Wie so oft gibt es an der indisch-pakistanische Grenze jenseits von Ladakh kleinere Militärgefechte.

Die Grenzlage zu Tibet macht die Himalajahochtäler von Lahoul und Spiti zur „Restricted Area“, wo westliche Touristen nur mit Sondergenehmigung und in Gruppen von sechs Personen oder mehr einreisen dürfen. Überhaupt ist diese Gegend erst seit einigen Jahren für Touristen zugänglich. Die Tatsache aber, dass Lahoul und Spiti bis vor kurzem Sperrgebiete waren, muss als Segen betrachtet werden. Im 9. Jahrhundert, als der Buddhismus fast gänzlich aus dem Mutterland Indien vertrieben wurde und nur noch in Grenzregionen wie dem Kaschmir-Tal lebendig war, gab es die ersten buddhistischen Missionierungswellen nach Tibet. Von Kaschmir kommend, überquerte u. a. der inzwischen quasimythologische Heilige Padmasambhava die hohen Bergwüsten von Ladakh, Lahoul und Spiti, um nach Tibet zu gelangen. Im 10. Jahrhundert dann baute der berühmte Reformator und Übersetzer der wichtigsten buddhistischen Sanskrittexte ins Tibetische, Rinchen Zangpo, 108 buddhistische Kultstätten im Himalaja. Einige dieser Kultstätten sind erhalten geblieben, was sie zu den ältesten tibetischen Kultstätten überhaupt macht.

Es ist Ende Juni, gerade der Anfang der dreimonatigen Periode, in der es überhaupt möglich ist, diese Gegend zu bereisen. Ende September wird es hier schon so kalt sein, dass sogar viele der Einheimischen in die niedrigeren Täler auswandern. Die ohnehin schwer zugänglichen Pässe werden dann zugefroren sein und Lahoul und Spiti für das restliche Jahr von der Welt abgeschnitten.

Vor unserer Auffahrt zum Kunzum-Pass, der Spiti von Lahoul trennt, halten wir in Batal an. Auf der Karte ist es als letztes Dorf in Lahoul eingezeichnet, doch ein Dorf kann man es nicht nennen. Zwei gedrungene Steinhäuser behaupten sich hier gegen die starken Winde, und der Teller fliegt fast aus der Hand, wenn man das Essen aus diesem „Familienrestaurant“ nach draußen tragen will. Der Pass steht unter dem Schutz der Dämonengöttin Kunzum. Dass es hier überhaupt eine Straße gibt zeugt davon, dass die Göttin ihre Hand im Spiel haben muss. Auf dem Pass angekommen, knien wir vor ihrem Stupa und kleinen Schrein nieder, und ihr fauchendes, rotäugiges Gesicht zieht eine Grimasse, vor der wir auf dieser Höhe von 4.550 Metern durchaus Respekt haben.

Suchte man auf dieser Erde eine Gegend, in der man einen mythischen Schatz verstecken wollte, wäre Spiti dieser Ort. So bedeutet Spiti im buddhistischen Sinne nicht zufällig: Platz der himmlischen Juwelen. Wenn Tibet das Dach der Welt ist, so ist Spiti eine geheime Nische auf diesem Dach, der Ort, wo man buchstäblich die wichtigsten, heiligsten sakralen Gegenstände – alte Bücher, Thankas, Masken und andere Kultgegenstände – versteckte, wenn es mal in Tibet politisch unruhige Zeiten gab.

Ich will in das Allerheiligste dieses magischen Ortes eindringen: die 1.000 Jahre alte Kultstätte von Tabo. Es ist eine der wenigen der 108 Kultstätten Rinchen Zangpos und somit eines der ältesten Zeugnisse des frühtibetischen Buddhismus. An den das Spiti-Tal überragenden historischen Klöstern Kye und Dhankar vorbeifahrend, erreichen wir dieses 700-Seelen Dorf. Es gibt hier ein kleines Hotel.

Seitdem der Dalai Lama hier 1996 zum 1.000-jährigen Bestehen der Kultstätte eines der wichtigsten buddhistischen Initiationsrituale abgehalten hat, gewinnt die zuvor fast vergessene Kultstätte wieder an Bedeutung. Durch eine Holztür trete ich in den menschenleeren Hof und bin überrascht, dass auch die gedrungenen Flachdachgebäude innerhalb der Mauer aus Lehm sind. Auf dieser Höhe regnet und schneit es selten, die Luft ist trocken, so konnten tatsächlich fünf der neun Tempel die Zeiten überdauern. Aus dem größten höre ich die tiefe, monotone Stimme eines Mönches, der irgendwo innerhalb des Tempels Gebete spricht. Die Tür steht offen, so folge ich im dunklen Raum der Stimme und finde mich an einem niedrigen, höhlenartigen Ort wieder. Es ist der Raum, in dem die alten Ritualmasken aufbewahrt werden.

Ich weiß nicht, wie lange ich hier sitze, bevor der Mönch aufsteht und mich in die Haupthalle des Tempels führt. In diesem rechteckigen, halbdunklen Raum bin ich plötzlich von lebensgroßen Bodhisattwa-Figuren umgeben, die aus den Wänden in den Raum zu schweben scheinen. Es ist die Halle der erleuchteten Götter, und wer sich in der Mitte dieser Halle befindet, steht im Zentrum des gesamten buddhistischen Kosmos, während alle Götter ihm die Gesichter zuwenden. Hier fühle ich mich für einen langen Augenblick so, als wäre ich am Ende meiner Reisen angelangt.