Reportage aus Kolumbien: Vom Begraben der Geschichte
Am Stadtrand von Medellín liegen mehrere hundert Opfer der Paramilitärs in einem Massengrab. Die Stadt nutzt den Ort als Schuttplatz. Angehörige fordern die Schließung.
MEDELLÍN taz Ein diesiger Nachmittag am Stadtrand von Medellín. Die Hochhäuser der Innenstadt, nur etwa vier Kilometer Luftlinie entfernt, verschwimmen im Dunst. Ein Kundgebung von 150 Personen steigt die staubige Erdpiste eines Schuttabladeplatzes hinauf.
Die Regierung von Alvaro Uribe schreibt sich auf die Fahnen, die rechten AUC-Todesschwadronen erfolgreich bekämpft zu haben. Tatsächlich wurden die AUC (Vereinigte Selbstverteidigungsgruppen), die mehr als 1000 Massaker verübt haben sollen, durch Verhandlungen ab 2003 demobilisiert. Dabei sollten die Paramilitärs zunächst in den Genuss einer Amnestie kommen. Erst internationaler Druck stoppte das geplante Legalisierungsgesetz. Im Rahmen der daraufhin eingeleiteten Strafverfahren begannen verschiedene AUC-Führer Aussagen über ihre Organisation zu machen.
Dabei wurde deutlich, dass es sich bei den Paramilitärs um unpolitische Gruppen der Organisierten Kriminalität handelte, die in fremdem Auftrag politische Morde verübt und Kleinbauern vertrieben haben. Als Gegenleistung durften die sie ungestraft ihren illegalen Geschäften - Drogenhandel und Schutzgelderpressung - nachgehen. Als die AUC-Kommandanten Konzernleitungen und das unmittelbare Umfeld von Präsident Uribe als Hintermänner zu belasten begannen, ließ die Regierung die Paramilitär-Führer in die USA überstellen, wo diese heute wegen Drogenhandels vor Gericht stehen.
Durch die Auslieferung ist die Aufklärung paramilitärischer Verbrechen weitgehend zum Stillstand gekommen. Zwar existiert eine Erinnerungskommission, die sich redlich um die Rekonstruktion einiger Massaker bemüht. Doch die meisten paramilitärischen Verbrechen bleiben im Dunklen. Zudem ist mittlerweile eine neue Generation paramilitärischer Gruppen im ganzen Land aktiv. RZ
Die Escombrera im Westen der Zweimillionenstadt Medellín scheint wie eine Verdichtung der kolumbianischen Wirklichkeit. Unter Geröll und Bauschutt sind hier 100 bis 400 Leichen vergraben. Die Toten sind Opfer der Operation Orión, einer Militäraktion, mit der die Armee Ende 2002 die Armenviertel der so genannten Comuna 13 zurückeroberte. Die Massengräber sind bis heute nicht geöffnet. Ja, mehr noch: Der Betrieb des Schuttplatzes lässt die Leichen immer tiefer in der Erde verschwinden.
Die Kundgebung an diesem Nachmittag soll diesem skandalösen Zustand endlich ein Ende bereiten. Es ist eine eigenartige "Prozession", die da den Berg heraufkommt. Hinter den 150 Teilnehmern, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, die Schilder mit den Fotos von Verschwundenen tragen, folgen 50 institutionelle Begleiter - UN-Beobachter, Angestellte der städtischen Menschenrechtsbehörde, Kameraleute - sowie ein ganzer Fuhrpark aus großen geländegängigen Jeeps. Und schließlich sind da auch noch die schwer beladenen Kipplaster, die im 60-Sekundentakt an der Kundgebung vorbeirollen und mit ihrem Motorenlärm alles übertönen. "Der Betrieb des Schuttplatzes ist nicht einmal heute eingestellt worden", ruft Ricardo Sierra von der 'Bewegung der Opfer staatlicher Verbrechen' (MOVICE) durchs Megafon.
"Es ist schon eigenartig! Alle Schuttplätze der Stadt werden illegal betrieben. Aber ausgerechnet dieser hat eine Lizenz und kann nicht stillgelegt werden." Der Mann fordert die Menge auf, mit einzustimmen: "Schließung des Schuttplatzes in der Comuna 13! Nein zum Begraben der Geschichte!" Doch nur wenige Teilnehmer rufen mit. Seit die Staatsmacht die Comuna 13 im Dezember 2002 zurückeroberte, hat es im Viertel keine Proteste mehr gegeben. Eine Frau, ein vergrößertes Foto ihres Sohnes vor sich auf der Brust haltend, bricht in Tränen aus.
Elvira García, Mutter von vier Kindern, hat die Comuna 13 schon vor Jahren verlassen. Ihre Erinnerungen an die Ereignisse sind nach wie vor frisch. "Die Armee hat damals die Guerilla vertrieben. Die ganze Zeit sind Hubschrauber über den Dächern gekreist. Fast zwei Monate lang wurde mitten im Viertel gekämpft - andauernd Schüsse und Explosionen. Jeder Jugendliche stand unter Verdacht."
Um zu verstehen, wovon García spricht, muss man einiges Vorwissen mitbringen. Denn die Frau, die ihre Familie als Schneiderin über Wasser hält, spart wichtige Informationen gezielt aus. Zum Beispiel dass die Guerilla in der Comuna 13 mit ihren 130.000 Bewohnern durchaus Sympathien genoss. Dass hier nicht die militaristischen FARC, sondern die eher befreiungschristlich beeinflusste ELN und unabhängige Milizen stark waren. Dass die bewaffneten Gruppen die Organisierung der Bevölkerung unterstützten und sich die Comuna 13 stärker als andere Armenviertel an Protesten gegen die Regierung beteiligte. Und dass die Militäroffensive in diesem Sinne vor allem politische Ziele verfolgte.
"Viele Jugendliche sind damals gestorben", fährt García leise fort. "Manche sind zwischen die Linien geraten. Andere haben sie getötet." Wer ist sie? Die Schneiderin benennt die Täter erst auf Nachfrage und auch dann nur zögerlich. "Na ja ... die Paras." Tatsächlich spielten die AUC-Paramilitärs eine entscheidende Rolle bei der Operation Orión. Selbst in Berichten der US-Regierung wird die Vermutung geäußert, dass die Initiative für die Offensive von Paramilitär-Führer Fabio Acevedo alias Orión ausging - einem Ex-Polizisten, dem die Operation auch ihren Namen verdankt.
Die illegalen Paramilitärs versorgten die Armeeführung mit Informationen und begleiteten Polizei und Soldaten, als diese im Oktober 2002 in das aus unverputzten Ziegelbauten und Holzhütten bestehende Viertel vorrückten. Verdächtige wurden von den Sicherheitskräften kurzerhand an die paramilitärischen Berufskiller weitergereicht, die die Festgenommenen schließlich auf dem Schuttplatz 'beseitigten'. Doch obwohl der damals kommandierende Militär Mario Montoya von verschiedenen Zeugen schwer belastet wurde, beförderte ihn die Regierung Uribe kurze Zeit später zum Heereskommandanten.
Elvira García will über solche Zusammenhänge nicht sprechen. Auch nur schweigend an der Kundgebung teilzunehmen, erfordert viel Mut. "Wir glauben", sagt sie, "dass die meisten Toten hier liegen ... Ich habe einen Schwiegersohn verloren." Dröhnend fährt erneut ein Kipplaster vorbei. Ein Aufkleber weist darauf hin, dass der LKW im Auftrag der Stadtverwaltung unterwegs ist.
"Für uns hat sich die Situation seit der Demobilisierung der AUC-Paramilitärs nicht verbessert." Andrés Jaramillo ist Sprecher der Bauernorganisation Asociación Campesina de Antioquia und hat Medellín aufgrund von Drohungen schon öfter für einige Monate verlassen müssen. Mittlerweile wird seine Organisation durch Freiwillige von Peace Brigades International begleitet. "Die Regierung behauptet, die Paramilitärs seien demobilisiert worden. Aber auch wenn mehrere AUC-Kommandanten in die USA ausgeliefert worden sind - die paramilitärischen Strukturen existieren weiter. Die Armenviertel werden von den gleichen Leute kontrolliert wie früher. Unsere Bauernorganisation kann in den Comunas kein Treffen machen. Jeder, der daran teilnimmt, hat Bedrohung zu fürchten."
Aus Jaramillos Sicht besteht eine seltsame Diskrepanz in der Stadt. Die letzten Bürgermeistern haben sich bemüht, Medellín als Ciudad Bonita, als 'hübsche Stadt', zu profilieren. Der jetzige Bürgermeister wird von einem Mitte-Links-Bündnis gestellt. Neue Ausstellungsorte, die Durchführung internationaler Konferenzen, aber auch Sozialprojekte sollen dafür sorgen, den Ruf der Stadt als Gewaltmetropole vergessen zu machen. Das Metrocable, zum U-Bahnnetz gehörende Seilbahnlinien, die in die Armenviertel hinaufführen, ist der sichtbarste Ausdruck dieser Anstrengungen. Das Verkehrsprojekt ist unbestritten nützlich: Die bevölkerungsreichsten Stadtteile sind endlich ins Nahverkehrssystem integriert. Zudem hat die Stadtverwaltung große Wohnungsbauprogramme aufgelegt und massiv in Bibliotheken und Schulen investiert.
Doch für Jaramillo hat das alles einen schalen Beigeschmack. "Viele Touristen können dank der Seilbahn jetzt selbst die schlimmsten Elendsviertel besichtigen. Manche Barrio-Bewohner allerdings sind noch stärker ausgeschlossen als früher. Niemand, der hier auf der Kundgebung ist, wohnt noch in der Comuna 13. Man darf nicht mal ansprechen, dass es so etwas wie Paramilitärs gibt. Eine Anweisung der Stadterwaltung besagt, dass von 'Gangs' geredet werden soll. Als wäre das alles nur ein Bandenproblem."
Im Hintergrund schaukeln die neuen Seilbahnkabinen die Hänge hinauf. Das Metrocable ist innerhalb kürzester Zeit zu Medellíns beliebtestem Postkartenmotiv aufgestiegen. Die Kundgebungsteilnehmer hingegen bleiben mit ihren Sorgen weiter unter sich - von den 50 institutionellen Begleitern einmal abgesehen, die in ihren Berichten vermelden werden, dass die schmerzhafte Aufarbeitung des Krieges in Kolumbien langsam, aber sicher voranschreitet. Die Organisatoren überlassen den Angehörigen das Mikrofon. Einige sprechen zum ersten Mal über die Ereignisse von 2002.
Jene Mutter, die das Bild ihres verschollenen Sohnes immer noch vor der Brust umklammert hält, stimmt eine verzweifelte Litanei an: "Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. Irgendjemand muss mir doch helfen können. Ich will die Knochen meines Jungen, seine Knöchelchen'." Dass sie huesitos sagt, also die Verkleinerungsform verwendet, macht die Situation noch bizarrer. Die Kipplaster laden lärmend den Bauschutt der Innenstadtmodernisierung auf den Massengräbern ab, Medellín präsentiert sich grün und malerisch im Nachmittagslicht, die Pressefotografen schießen Bilder von traurig dreinblickenden Kindern.
Kolumbiens Geschichte drehe sich im Kreis, lautet einer der Kernsätze in Gabriel García Márquez' Roman "Hundert Jahre Einsamkeit". Und so dreht sie sich weiter und weiter: Während die einen darauf hoffen, wenigstens die Überreste ihrer Kinder zurückzubekommen, berichtet die kolumbianische Staatsanwaltschaft, dass die Armee seit Anfang 2007 erneut zwischen 500 und 1000 Zivilisten außerhalb von Kampfhandlungen ermordet hat.
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