: Relative Ruhe nach der Angst vor dem Inferno
■ 100.000 Menschen in Grosny verlassen erleichtert ihre Verstecke in Kellern und Ruinen
Grosny (AFP/dpa/rtr/taz) – „Wir sind verzweifelt, ohne Brot, ohne Wasser oder Licht. In unserem Haus sind keine Kämpfer der Rebellen, keine Soldaten, und niemand schießt von hier. Wir flehen euch an, tut alles, um diesen Krieg zu beenden.“ Der auf ein Flugblatt gekritzelte Hilferuf mit der Unterschrift von 32 Einwohnern Grosnys hat Gehör gefunden. Die schätzungsweise 100.000 Menschen, die in den Kellern und Ruinen Unterschlupf gesucht haben, können aufatmen. Das Inferno ist vorerst ausgeblieben.
Während russische Bomben und Artillerie noch am Mittwoch Gebäude in Brand schossen, riesige Krater aushoben und ganze Stadtteile in Rauchwolken einhüllten, ist es seit gestern ruhig. Dennoch: Viele trauen dem Frieden nicht. Die Menschen fliehen weiter aus der Stadt; viele Alte, Kranke und Verletzte trauen sich noch nicht aus den Kellern. Die, die sich aus ihren Unterständen und Kellern ans Tageslicht wagen, sehen dort ausgebrannte Gebäude und unbewohnbare verkohlte Ruinen vor sich. Die Suche nach Wasser und etwas Eßbarem beginnt. Die wenigsten können darauf hoffen, schon in kurzer Zeit von Hilfsorganisationen mit Lebensmitteln und Wasser versorgt zu werden.
Die tschetschenischen Kämpfer aber können sich als die Sieger des zweiwöchigen Kampfes um Grosny fühlen. Während sie in den vergangenen Tagen Schützengräben aushoben und Unterstände bauten, um sich vor den Bomben und Artillerieangriffen zu schützen, fahren sie jetzt triumphierend in erbeuteten russischen Jeeps durch die Ruinen Grosnys. Noch in der Nacht vor dem Auslaufen des Ultimatums knieten sie in zu Moscheen umfunktionierten Bunkern zum Gebet nieder, um sich auf die Abwehrschlacht zu konzentrieren. Ihr Kommandeur hatte keinen Zweifel an der Entschlossenheit gelassen: „Unsere Männer wollen bis zum Ende kämpfen“, hatte er einem Journalisten gesagt. „Wir wollen nicht nur die Berge beherrschen, wir lieben die Stadt, wir werden hier bleiben.“
Die Tschetschenen haben nicht nur mehr Mut, sondern auch die besseren Ortskenntnisse. Und sie verfügen über eine Moral, die den jungen desillusionierten und verängstigten russischen Wehrpflichtigen fehlt. Ein junger russischer Schütze gesteht unumwunden ein, daß er in 20 Sekunden zum Abmarsch bereit wäre, wenn nur endlich der verdammte Befehl käme.
Sicher fühlen konnten sich die russischen Truppen in Grosny nie. Schon unmittelbar nach Beginn des russischen Einmarsches am 11. Dezember 1994 hatten die erbitterten Gefechte um Grosny begonnen. Erst im März 1995 hißten die Russen ihre Flagge auf dem völlig zerstörten Präsidentenpalast. Im März diesen Jahres lieferten sich starke tschetschenische Einheiten tagelang schwere Kämpfe mit den Russen. Am 6. August eroberten sie Grosny zurück. Nach diesem Sieg dürfte die Stadt für die Kämpfer unschätzbar an Bedeutung gewonnen haben. „Wir gehen hier nicht mehr weg“, hatte ihr Militärführer Schamil Bassajew vor einigen Tagen gesagt. Es scheint, als sollte er recht behalten.
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