piwik no script img

Archiv-Artikel

bücher für randgruppen Reisen mit Walser

Auf dem Rücken der Bücher von Robert Walser bei Suhrkamp fand sich jahrelang immer ein geistreiches Wort über den Autor und seine Texte, verfasst von Schriftstellern des Verlages. So bemerkte dort etwa Martin Walser den „Unerschöpflichkeitsrang“, den man bei Robert Walser erlebe. Möglicherweise hätte Robert den Unerschöpflichkeitsrang zu einer eigenen Überschrift gemacht oder zu einem Essay über eine Reihe von konkurrierenden Apfelbäumen, die unter dem Gewicht ihrer Früchte ächzen. Auf dem Rückumschlag der gerade erschienenen Sammlung von teils unbekannten Texten findet sich nun folgender Satz von Robert Walser: „Der Schriftsteller ist mit sich jedes Mal fertig, wenn er das erste Wort schreibt, und wenn er den ersten Satz geformt hat, kennt er sich nicht mehr.“ Walsers gleichzeitige Distanz und Nähe zu früheren Zeiten, als die kurzen Texte in Zeitungen und Sammlungen erschienen, hat auf viele unseriös oder gar albern gewirkt. Er hat einen Stil höchst bewusster Subjektivität gepflegt, weshalb heute alles besonders frisch, modern und lebendig wirkt.

In „Feuer“ finden sich bislang unentdeckte Texte aus versunkenen Blättern wie Berliner Börsen-Courier oder der Frankfurter Zeitung aus dem frühen 20. Jahrhundert. Da blinken Perlen wie „Etwas über die Eisenbahn“, in welchen das Herumstehen auf Bahnhöfen gepriesen wird und nützliche Ratschläge gegeben werden, die sich auch heute als unüberholt erweisen: „Für Stellenlose und alle die verschiedenen Sorten Tagediebe, die das heutige industrielle, künstlerische und kommerzielle Leben und Treiben bisweilen aufs Pflaster setzt, sind Bahnhöfe und der Anblick von abfahrenden und ankommenden Zügen ein Ideal.“

Robert Walser ist ein eigenartig isolierter Betrachter, ein Fremdkörper, der einerseits seltsam unberührt und doch ganz nah, mittendrin mit verwunderten Augen das Geschehen seiner Zeit und Welt beschaut. Ist das komisch, einfach nur ehrlich, realistisch, banal oder modern, wenn er mitten im Text auf den Beobachter weist, der ihm bislang die Augen für viele schöne Details auf dem Bahnhof öffnete?

Es ist sehr angenehm, Robert Walsers wunderbare Prosa im Zug zu lesen. Ich tat das auf einer Fahrt von Berlin nach Bern mit dem Schweizer Nachtzug City Night Line. Gegen 4.30 erwachte ich und sah, dass sich Räuber in mein Abteil geschlichen und meine Geldbörse mit Bargeld und Bankkarten entwendet hatten. Das Walserbuch lag unberührt daneben. Nachdem ich per Handy die Kreditkarte gesperrt hatte, las ich weiter von „Feuerbrünsten in der Großstadt, die Platz für Neues schaffen“, und beruhigte mich allmählich von der Aufregung. Angelangt in Bern lud mich mein Gastgeber Prof. Florian Dombois in das Restaurant ein, in dem Robert Walser immer zu Mittag gegessen hatte. Zurück in Berlin erhielt ich einen freundlichen Brief in leichtem Robert-Walser-Deutsch, in dem mir mitgeteilt wurde, dass „Beraubungsschäden“ in der City Night Line leider nicht ersetzt werden können. „Trotz dieser für beide Seiten unangenehmen Erfahrung“ hofft die Schlafwagengesellschaft, mich schon bald wieder in einem ihrer Züge begrüßen zu können. Zunächst lese ich das Buch zu Ende, wo ich mittlerweile auf Seite 90 beim Thema Eisenbahnfahren angelangt bin: „Warum reise ich gerne?“

WOLFGANG MÜLLER

Robert Walser: „Feuer“. Suhrkamp 2003, 144 Seiten, 16,90 Euro