Reisebericht aus Kuba : Auf der Suche nach Che
Im marxistischen Lesekreis schwärmte der Dozent vom gelebten Sozialismus in Kuba. Das will man doch gesehen haben!
Von RUTH FUENTES
Es ist schon dunkel, als wir in Santa Clara ankommen. Der Stadt, in der Ende Dezember 1958 der strategisch wichtigste Häuserkampf der kubanischen Revolution ausgefochten wurde. Angeführt vom legendären Comandante Che Guevara, dessen Foto viele Jahre in meinem WG-Zimmer hing. Wenig später erklärte Revolutionsführer Fidel Castro Kuba zum sozialistischen Staat.
Die Einschusslöcher von damals seien noch in einigen Gebäuden Santa Claras zu sehen, wurde mir gesagt. Weshalb ich in Havanna das nächste Taxi nehme, um diesen vom Sozialismus geprägten Ort mal anzuschauen. »Deine ruhmreiche und starke Hand befeuert die Geschichte, wenn ganz Santa Clara erwacht, um sich mit dir zu treffen«, dröhnt der Song des kubanischen Komponisten Carlos Puebla durch die Kopfhörer in meine Ohren, während wir in die Stadt reinfahren. Ganz befreien vom revolutionären Pathos kann ich mich beim Zuhören nicht. Dabei legt sich gerade über Santa Clara die Nacht. Das ruhmreiche Erwachen liegt noch fern. Am Straßenrand stehen leichtbekleidete Frauen. Am »Monumento Memorial Che Guevara« kurz vor dem Stadtzentrum bitte ich den Fahrer, mich rauszulassen:
»Hier? Nicht am Hostel?«, fragt er irritiert, als wir auf einem riesigen fast menschenleeren Platz halten. Plaza de la Revolución.
»Ja, hier, wegen Che.«
Ich deute auf die fast sieben Meter hohe Bronzestatue, die dunkel auf einem Sockel über dem Platz prangt. Fast in der Dunkelheit verschwindet.
»Ah, das macht dann 30 Euro«, sagt er knapp und fährt weg.
Vier Jugendliche sitzen auf einem Treppenabsatz und tippen auf ihren Handys herum.
»Was haltet ihr eigentlich von Che?«
Sie starren erst mich stumm an, dann sich, fangen dann an zu kichern, niemand antwortet.
»Da müsste ich jetzt meine Geschichtslehrerin fragen. Kann mich nicht so richtig erinnern …«, sagt irgendwann eines der Mädchen leise.
»Das ist keine Prüfungsfrage. Ich will nur eure Meinung wissen …«, sage ich, und da niemand richtig darauf eingeht: »Er ist euch ziemlich egal, was?« Ich deute auf das Denkmal hinter mir.
Sie nicken und vertiefen sich schnell wieder in ihre Social Media.
Che Guevara, moderner Heiliger
Es ist noch gar nicht lange, dass sie das tun können. Auf Kuba gibt es erst seit 2018 mobiles Internet. In staatlicher Hand und seit den landesweiten Protesten vom Juli 2021 stark gedrosselt, um weitere, zu schnelle Kommunikation und Solidarisierung zu verhindern.
Unter dem Monument liegen Ches Überreste seit 1997. Dreißig Jahre, nachdem er in Bolivien erschossen worden war. Und nachdem die Bilder des toten Revolutionärs um die Welt gegangen waren. Ein moderner Heiliger. Ich lese den Brief von Che an Fidel, der in den riesigen Stein neben der Statue eingraviert ist. » ... dass man in einer Revolution triumphiert oder stirbt (wenn es eine richtige ist)«, steht da. Ihm gelang beides. Zwei Jahre nach Verfassen des Briefes war er tot.
Jetzt kommt ein Mann auf mich zu. Grüne Militäruniform. Zielstrebiger Gang. »He, Sie.« Ich drehe mich zu ihm. »Sie können hier nicht sein.« Mir fällt trotz der Dunkelheit auf, wie jung er ist. Vermutlich ist er einer der vielen jungen Männer, die ihren verpflichtenden Militärdienst leisten. Manche seiner Kameraden müssen die angesagten Läden bewachen, in denen nur mit Devisen gezahlt werden kann. Er ist eben für den Che zuständig.
»Ich schaue mir nur das Che-Denkmal an.«
»Das Denkmal und das Museum haben geschlossen.« Sein Blick ist müde, eine Fake-Golduhr hängt an seinem linken Handgelenk, und ich glaube, es ist keine gute Idee, ihn nach seiner Meinung zum »Comandante« zu fragen. Ich laufe lieber in die Stadt und hole mir etwas zu essen. Schweinefleisch und Reis mit Bohnen.
»El Che?«, fragt Lázara, als sie mir noch ein Cristal-Bier an den Tisch bringt. Es hört sich an, als hätte ich sie nach einer längst vergessenen Person gefragt. Ja, dieser Typ, dessen Gesicht hier an jeder zweiten Hauswand zu sehen ist. Und dessen Bild in jeder Bankfiliale hängt, denke ich.
»Wie findest du den?«
»Ach, wenn überhaupt, dann ist das kubanische Volk Fidelista.« Aber Che sei auch ein toller Mensch gewesen, meint sie dann, setzt sich zu mir an den Tisch und erzählt die Geschichte, wie dieser damals im Kampf in der Sierra Maestra einen Teller mit Reis und Schweinefleisch von ein paar Campesinos gekocht bekommen hatte. »Was hat er getan? Natürlich nicht selbst aufgegessen. Nein, er hat es mit allen geteilt. So war Che.«
»Und Fidel Castro?«
»Du fragst Dinge.« Sie schaut sich immer wieder um, während sie mit mir redet, als wäre da vielleicht jemand, der lauschen könnte. Aber der Laden ist leer.
»Es war schon immer beschissen«
Böse Zungen erzählten ja, sagt sie leise, Fidel hätte – so wie er es schon mit dem anderen Guerillaführer Camilo Cienfuegos gemacht hatte – Che »wegorganisiert«. Aber was tut das eigentlich noch zur Sache?
»Stell dir vor. Er ist jetzt seit sechs Jahren tot. Und trotzdem gibt es tatsächlich Leute, die behaupten: Wenn Fidel noch hier wäre, dann wäre alles besser. Dabei war es schon immer beschissen, spätestens seit dem Fall der Sowjetunion. Und jetzt mit der Pandemie …«
Sie holt eine Flasche Sonnenblumenöl und schenkt uns ein. Ich brauche etwas, um zu checken, dass das Rum in der Flasche ist.
»Na ja, eins muss man ihm lassen.« Sie nimmt einen Schluck. Es fällt mir schwer, ihr Alter einzuschätzen. Auf ihrer dunklen Haut zeichnen sich Falten ab und der Blick wirkt müde, die Klamotten alt. »Fidel, der hatte cojones. Eier. Nicht so wie dieser Díaz-Canel, der jetzt Präsident ist. Der hat nicht selbst in der Sierra Maestra mitgekämpft. Fidel hat die Kubaner aus einer blutigen Diktatur befreit, das muss man ihm lassen. Er hat Kuba auf die Weltkarte gebracht. Fidel war ein Genie, das muss man zugeben, ein machiavellistisches Genie, aber ein Genie. Und er hatte Eier.« Sie erzählt mir von Naturkatastrophen und sogar einer Geiselnahme, bei denen Fidel immer persönlich erschienen sei. Ohne Angst habe er die Situation geregelt. »Jetzt bekomme ich sogar Gänsehaut, wenn ich davon erzähle«, sagt Lázara und schenkt Rum nach. Ich zittere auch schon leicht.
»FIDEL, DER HATTE COJONES. EIER. ER WAR EIN MACHIAVELLISTISCHES GENIE. ER HAT KUBA AUF DIE WELTKARTE GEBRACHT. WÄRE FIDEL HIER, DANN WÄRE ALLES BESSER.«
Kellnerin Lázara in Santa Clara
Plötzlich muss ich an den marxistischen Lesekreis denken, den ich an der Uni besucht hatte. An den Dozenten und wie der damals von Fidel schwärmte und vor allem damit angab, wie viele Frauen er kannte, die mit ihm geschlafen hatten. Und dann immer dieser Satz: »Es gibt eben doch ein funktionierendes sozialistisches System: Kuba.«
Niemand von uns war jemals auf Kuba gewesen. Wir wussten zwar, dass es dort an allem mangelt, aber daran sind ja die Amis schuld. Hatten schon mal gehört, dass man da nicht so wirklich alles sagen darf, was man denkt. Aber das wird schon seinen guten Grund haben … wir stellten uns ein sozialistisches Paradies unter Palmen vor.
Unter den Palmen treffe ich aber nur auf Menschen wie Lázara, die für umgerechnet rund 20 Dollar im Monat arbeiten. Denen offiziell 500 Gramm Reis in der Woche zustehen und ein Brot am Tag, wenn man bereit ist, sich stundenlang in die Schlange zu stellen. Die im Monat nur über die Runden kommen können, wenn die Verwandten aus dem Ausland ihnen Geld schicken oder sie auf dem Schwarzmarkt arbeiten. Es ist ein Schwarzmarkt, den die Regierung zugleich toleriert, weil er Devisen einbringt. Unter den Palmen sind die Gehwege kaputt und Gebäude einsturzgefährdet.
Santa Clara ist das Wirtschaftszentrum Kubas. Hier gibt es Landwirtschaft. Vor allem Zuckerrohr und Viehzucht. Zucker, das war lange das Produkt, auf das Kuba und Fidel Castro so stolz sein konnten. 1970 mobilisierte der Staatschef das ganze Volk, sich an der Ernte zu beteiligen. 8,5 Millionen Tonnen erreichte man damals. Mit 474.000 Tonnen im letzten Jahr ist die Ernte heute so schlecht wie lange nicht. Es mangelt an Düngemittel, Pestizide, Treibstoff, Ersatzteile für Maschinen und vielleicht auch am Willen?
Etwas Besseres als das Vaterland findest du überall
»Hier gibt es keine Zukunft mehr«, sagt Lázara. »Alle meine Freunde sind gegangen. Es sind 90 Meilen von Havanna nach Florida, weißt du? Was bringt es mir, mich hier mit dem Regime anzulegen? Mir fehlen nur noch rund 500 Dollar, und dann bin ich weg hier. Meine Schwester ist auch schon drüben.«
Ob es der Schwester denn besser gehe in Florida, frage ich.
»Wenn du dort arbeitest, kannst du dir wenigstens ein menschenwürdiges Leben leisten. Und im Supermarkt gibt es Milch und Eier.«
Nix mit »Patria o Muerte«. Das Motto lautet: Etwas Besseres als das Vaterland findest du überall. Über 200.000 Kubaner sind 2022 allein (über die mexikanische Grenze) in die USA ausgewandert. Es ist eine der höchsten Auswanderungszahlen seit den Neunzigern.
»Gut, dass du diese Woche erst gekommen bist. Davor hatten wir Stromausfälle von bis zu 15 Stunden am Tag«, sagt die Kellnerin, als ich mich aufmache, ein Hostel für die Nacht zu finden.
Zwei Tage später habe ich genug gesehen. Genug Touristenführer mit Che-Tattoo am Unterarm, die glauben, alle Europäer lebten im Überfluss und müssten ihnen etwas abgeben. Genug vom Che-Guevara- und Zigarren-Merch für Touris, den man am besten in Dollar zu bezahlen hat. Genug »Guantanamera«-Coverbands und genug wartende Menschen vor Läden, Banken, Bushaltestellen. Ich nehme eines dieser Sammeltaxis zurück nach Havanna. Busse fahren ja keine. Und wir können froh sein, dass er überhaupt an Benzin gekommen sei heute, sagt der Fahrer. Und dreht das schnulzige Herzschmerz-Salsa-Lied etwas lauter.
Die zwei Typen von den Bahamas beraten sich auf der Rückbank, wie sie ein »besonders kostengünstiges Geschäft mit dem Kauf billiger T-Shirts auf Kuba und dem teuren Verkauf auf ihrer Insel« starten wollen. Ich hoffe wirklich sehr, dass sie damit voll auf die Fresse fliegen. Der Fahrer erzählt, dass er nächstes Jahr auch endlich in Florida ein neues Leben anfangen will.
Ich kurble das Fenster herunter. Zünde mir eine viel zu starke kubanische Fertigzigarette an, weil mein Drehtabak schon lange ausgegangen ist. Während der bronzefarbene Che mit seinem »Hasta la victoria siempre« langsam hinter mir verschwindet, versucht der Fahrer mehr oder weniger erfolgreich, den Schlaglöchern auf der Straße auszuweichen.
RUTH FUENTES war als Teil ihres taz Panter-Volontariats auf Recherche in Kuba. Volontariat und Reise wurden von der Stiftung finanziert. Für taz FUTURZWEI schreibt sie zusammen mit Aron Boks die Kolumne „Stimme meiner Generation“.
Dieser Beitrag ist im März 2023 in taz FUTURZWEI N°24 erschienen.