Regisseur über den Film "Simons Geheimnis": "Liebe bleibt beweglich"
Atom Egoyan trieb für seinen Film "Simons Geheimnis" ein Gedanke um: Wie schnell wir alle zu Monstern werden können. Der Regisseur über seinen neuen Film, Facebook, 9/11 und Befreiung.
taz: Herr Egoyan, für sechs Stunden Zeitunterschied sehen Sie aber erstaunlich frisch aus …
Atom Egoyan: Ich nehme eine wirklich tolle Pille gegen Jetlag. Keine Nebenwirkungen. Keine unangenehmen jedenfalls. Es ist fantastisch, fast ein bisschen hyperreal. Es ist dieser seltsam überwache Zustand, den man nach einer durchwachten Nacht in den frühen Morgenstunden erleben kann. Etwa zwei Stunden, in denen einem die Welt förmlich mit einer rätselhaften Tiefenschärfe und Klarheit entgegenzuspringen scheint.
Ist ja toll. Sind Sie sicher, dass das nur eine Pille gegen Jetlag ist?
Ich hoffe es, sonst müsste ich mir um meine Sinne wohl ernsthafte Sorgen machen. Oder um meine Euphorien. Oder um einen möglichen Medikamentenmissbrauch (lacht).
Das Fliegen scheint Ihnen weniger Probleme zu bereiten als die Fahrt mit Autos und Bussen. Es gibt kaum einen Film von Ihnen, in dem es nicht zu einem tragischen Verkehrsunfall kommt. In Ihrem jüngsten Film "Adoration" (deutscher Titel: "Simons Geheimnis") wird wieder eine Kleinfamilie in einem Crash zerstört. Welches Verhältnis haben Sie zum Autoverkehr?
Mich faszinierte immer schon die Idee, dass dieses Objekt erfunden wurde, um einem einerseits Freiheit und andererseits einen geschützten, geschlossenen Innenraum zu geben. Dabei bleibt dein Schicksal immer in den Händen von anderen. Von aufmerksamen oder eben weniger aufmerksamen Verkehrsteilnehmern, von Ursache-und-Wirkungs-Ketten, die sich außerhalb deines Cockpits entscheiden. Mich interessieren Transportmittel. Flugzeuge, Schiffe, Lkws und natürlich Busse. Die große Illusion von einer sicheren Passage von A nach B.
Folgt man diesem Gedanken von der sicheren Passage, die sich ins Gegenteil verkehrt, und dem Transportmittel Flugzeug, kommt einem unweigerlich 9/11 in den Sinn.
Natürlich. Auf den ersten Blick richteten sich die Flugzeugattacken ja gegen die Türme als Symbol des westlichen Kapitalismus. Aber auf den zweiten ging es auch hier um zivile, friedliche, schützende Transportmittel, die sich plötzlich gegen uns wenden.
In "Adoration" wird eine bestimmte Nacht, die sich in den Wochen nach 9/11 zugetragen hat, ganz zentral für die Geschichte, und die hat sich sicherlich an mehreren Orten, in vielen Familien ebenso zugetragen. Der hassblinde Schwiegervater betreibt einen virtuellen Terrorismus, einen Gegenanschlag. Er beschimpft Sami, den Libanesen, pauschal als Terroristen, Mörder und Zerstörer. Er wiederholt das am Sterbebett Jahre später vor seinem Enkel. Der Gedanke, dass sein Vater ein Monster war, beflügelt Simons Fantasie noch.
Ist die Entstehung von Extremismus immer nur als Gegenreaktion vorstellbar?
Das kann ich nicht beantworten. Mich hat einfach erstaunt, wie leicht es für ein menschliches Wesen zu sein scheint, andere menschliche Wesen als Objekte zu versachlichen. Vorausgesetzt, man hat eine starke Motivation für sein Tun. Ein Land, das gegen ein anderes Krieg führt, macht das auch. Wie leicht da ein Schalter umgelegt wird, das ist das Schockierende. Wenn wir die Erlaubnis von jemandem bekommen, werden wir alle ganz leicht zu Monstern.
Mein Thema in "Simons Geheimnis" ist der Extremismus, der jeden Menschen, jeder Schicht, jeder Erziehung in seinem Denken, Handeln und Reden bestimmen kann.
Simon denkt sich in einem Schulaufsatz aus, dass sein Vater ein Terrorist war und seine mit Simon schwangere Frau samt den Passagieren eines Flugzeugs in die Luft gehen lassen wollte. Ist das nicht auch eine Art "Neurotischer Roman" wie ihn sich unter anderem Pubertierende gerne ausmalen, um das labile Ego glamouröser in der eigenen Familienstruktur zu platzieren?
Natürlich, das was Simon da entwirft, ist auch die Privatmythologie seiner Pubertät. Die Erwachsenen werden als Täter oder Opfer, in jedem Fall radikal in seiner Geschichte besetzt. Erstaunlich und erschreckend ist aber, wie gut diese neurotische Imagination zu den Zerrbildern der Erwachsenenwelt passt. Dass es eben der Extremismus ist, in dem sie sich treffen.
Um welche Verehrung geht es Ihnen in "Adoration" genau? Um die für den Vater Sami, den Killer, den Terroristen, den Helden, den vom Großvater Diskriminierten und Verstoßenen?
Erst einmal geht es ganz allgemein um Simons Bewunderung für seinen toten Vater. Eine Bewunderung, die ohne dass der Sohn es weiß, von seiner Lehrerin Sabine geteilt wird und die jede von ihren Handlungen bestimmt.
Beide errichten einen Schrein für Sami. Und den füllen sie nach und nach mit überhöhten Objekten, wie die antike Schnecke an Rachels Geige, die Sami ihr in seiner Geigenbauerwerkstatt liebevoll angepasst hat. Der Blick, mit dem die Verehrung den Toten fokussiert, wird immer starrer. Als müsse sie das Regungslose übernehmen. Darin liegt auch der Unterschied zwischen Liebe und Verehrung. Liebe bleibt beweglich im Blick, sie verändert sich.
Verbreitet Simon seine Geschichte im Internet, weil sie sich dort am schnellsten multiplizieren kann und sich nicht mehr zurücknehmen lässt?
Mein Sohn hat 600 "Freunde" bei Facebook. Was er ihnen erzählt, geht um den Erdball. Natürlich sind es keine Freunde, aber potenzielle Gesprächspartner sind es eben doch. Es ist nicht echt, nicht spontan, aber es schafft seine eigenen Räume und auch Intimitäten. Oder Superintimitäten, weil es so viele gleichzeitig sein können. Das Internet ist kein Ort des physischen Sich-nahe-Kommens, es ist einer der Informationen. Deswegen muss Simon sich auch auf eine physische Reise begeben.
Sie haben mal gesagt, dass alle Aspekte Ihres Schaffens sich mit einem Thema auseinandersetzen: mit der Tatsache, dass Sie Armenier sind. Was meinen Sie damit?
Als Armenier versucht man sich in irgendeiner Weise in der Geschichte einzurichten. Wie geht man mit dieser jahrhundertelangen Historie des Hasses und der Intoleranz um? Wie verarbeitet man die andauernde Leugnung des Genozids an seinem Volk?
Bis heute hat die Türkei sich nicht zu diesem Völkermord bekannt. Geschweige denn, sich dafür öffentlich entschuldigt. Man muss also weiter davon sprechen. Wenn wir uns nicht immer wieder daran erinnern, wird es kein anderer tun.
Ist "Simons Geheimnis" so etwas wie das Making-of einer Erinnerung?
Jede Fotografie ist aufgeladen mit dieser Idee. Auch die Bilder der Filmkamera. Ebenso wie die Filme, die Simon mit seinem Handy macht. Alles Projektionen, die sich zu einem Mythos organisieren. Ein konstruktiver aber zugleich auch ein dekonstruktiver Akt. Deswegen ist "Simons Geheimnis" das Making-of und zugleich das Un-Making-of einer Erinnerung.
Sie wurden 1960 in Kairo geboren und zogen später mit Ihren Eltern nach Victoria in British Columbia. Erinnern Sie sich noch an Ihre Ankunft dort?
Ich sprach kein Englisch. Es gab keine armenische Community und ich hatte das verzweifelte Bedürfnis, mich ganz schnell anzupassen an das Leben dort und absorbiert zu werden. Victoria war wie eine der letzten Bastionen des britischen Empire, jeder dort sprach noch diesen alten, unglaublich theatral klingenden Akzent.
Ich erinnere mich, ich war vier Jahre alt, wie mein Vater mich das erste Mal zum Kindergarten brachte. Er wies die Erzieher an: "Wenn er dies sagt, bedeutet das, er ist hungrig. Sagt er das, möchte er auf die Toilette." Als ich später auf Armenisch zu einem der Betreuer sagte: "Ich muss aufs Klo", brachte der mir ein paar Brote und Bananen.
Was haben Ihre Eltern Ihnen mitgegeben, an was haben Sie als Kind geglaubt?
Mein innigster Glaube war der an die Kunst selbst. Und zwar regelrecht als Befreiung. Kunst war für mich wie ein religiöser Code. Ich war überall zu Hause von Kunst umgeben. Alles war voll mit Gemälden, Zeichnungen, Skizzen. Meine Eltern waren Maler, meine Schwester spielte Klavier und wurde später Musikerin. Mit 14 oder 15 schrieb ich meine ersten Dramen für das Schultheater.
Haben Sie jemals daran gedacht einen klassischen Genrefilm zu machen?
Das überlege ich jedes Mal. Man kann natürlich auch "Where the Truth Lies" als meine Version eines Film noir, "Ararat" als historisches Epos und "Felicia - mein Engel" als Thriller verstehen.
Ich denke über einen Western nach. Warum nicht? Man kann ja schließlich auch mal einen Film einfach so zum Vergnügen machen.
Atom Egoyan macht einen Film nur so aus Spaß?
Genau.
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