Reformer in der Linkspartei: "Lafontaine lässt zu viel laufen"
Der Reformer André Brie fürchtet einen Rückfall in eine altkommunistische Parteikultur. Er kritisiert seinen Parteichef und fordert: Mehr reale Politik und weniger Ideologie.
taz: Herr Brie, Sylvia-Yvonne Kaufmann, Carl Wechselberg und Roland Weckesser sind aus der Linkspartei ausgetreten. Sind das Einzelfälle oder löst sich das Reformlager auf?
André Brie: Das sind individuelle Fälle. Aber diese Austritte schwächen die Reformer.
Treten Sie nun in die SPD ein?
Nein. Ich bleibe definitiv in der Linkspartei.
Sie haben am Tag der Europawahl im Spiegel Lafontaine angegriffen. Ihr Exfraktionskollege Tobias Pflüger hat deshalb indirekt Ihren Parteiausschluss gefordert.
Ach, die Forderung nach Parteiausschluss kennen wir zur Genüge. Denen fällt wirklich nichts Neues ein. Außerdem: Ich habe Oskar Lafontaine nicht nur kritisiert, sondern auch mit viel Wertschätzung seine herausragende, aber auch einsame Rolle in der Partei beschrieben. Mich beunruhigt, dass es einen Rückfall in alte kommunistische Ideologien gibt - und auch in eine altkommunistische Parteikultur.
Das lasten Sie Lafontaine an?
Es gibt in der Partei Kräfte, die keine reale Politik machen, sondern rein ideologisch denken. Lafontaine nimmt es hin, dass diese Kräfte stärker werden. Er lässt es laufen. Mein zweiter Kritikpunkt ist: Wir haben ausgefeilte Konzept für Protest - aber wir sind nicht Teil einer gesellschaftlichen Alternative. Und wollen das offenbar auch nicht sein.
Ist die Stärke der Ideologen nicht ebenso das Resultat der Schwäche der Reformer?
Ja, das stimmt. Die Reformer sind an der Parteibasis durchaus dominant. Aber sie verstehen es nicht, auf Parteitagen strategisch aufzutreten und sich durchzusetzen. Das ist eine Schwäche.
Woher kommt die?
Es gibt eine tief sitzende aus der SED-Zeit stammende Skepsis gegenüber Parteikämpfen um Macht und Posten. Vielen im Reformlager reicht es, vernünftige Positionen in der Öffentlichkeit zu vertreten. Das auch in der Partei durchzusetzen, wird bei vielen gering geschätzt.
Gibt es in der Linkspartei genug offene Debatten?
Nein. Das wesentliche Manko ist, dass die Debatten zersplittert sind. Sie werden in Zirkeln geführt, nicht parteiweit.
Warum? Es gibt doch beispielsweise das Forum demokratischer Sozialismus (FdS), in dem sich die Linkspartei-Reformer organisieren.
Das FdS ist sehr aktiv - doch fehlt das Streben und die Fähigkeit, in die ganze Partei hineinzuwirken. Der Hintergrund dieses Mangels an Debatten ist die Entstehung der Linkspartei. 2005 mussten WASG und PDS ganz schnell fusioniert werden. Es gab keine strategische Klärung, was man will. Die fehlt bis heute.
Kernforderungen des Wahlprogramms sind 500 Euro Hartz IV, 10 Euro Mindestlohn und ein 100-Milliarden-Euro-Programm, mit dem zwei Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden. Sind das realistische Forderungen?
Kommt drauf an, was man mit realistisch meint. Ich finde es realistisch, dass Menschen von ihrer Arbeit leben können. Und dass sie, wenn sie keine Arbeit haben, menschenwürdig leben können. Gesellschaftlich sind die Forderungen im Moment nicht durchsetzbar, das stimmt. Ich halte es aber trotzdem für richtig, diese Forderungen zu artikulieren. Ein Staat, der Milliarden Euro aufbringt, um die Spekulationsverluste von Banken abzufedern, muss auch Geld für Arbeitsplätze aufbringen.
Nun scheinen solche Maximalforderungen der Linkspartei in der Finanzkrise keineswegs zu nutzen. Welche Strategie braucht die Partei?
Wir müssen Protest mit realistischen Alternativen verbinden. Wir müssen zeigen, dass wir beides tun können: Kompromisse machen und Alternativen vertreten. Die Europawahlen haben gezeigt, dass nur Protest, nur Kritik nicht reicht, um Wähler zu mobilisieren.
INTERVIEW: STEFAN REINECKE
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